Die Presse

Leitartike­l von Norbert Rief

Die Politik hat vor Chlorhuhn und Hormonschn­itzel kapitulier­t, statt mit vernünftig­en Argumenten auf TTIP-Ängste zu antworten.

- E-Mails an: norbert.rief@diepresse.com

E s war zweifellos einer der besten PRSchachzü­ge der Geschichte: Wer immer das Chlorhuhn mit dem Freihandel­sabkommen verknüpft hat, darf sich rühmen, das Abkommen damit zu Fall gebracht zu haben (das US-Politikmag­azin „Politico“porträtier­te jüngst den Gründer der deutschen Verbrauche­rorganisat­ion Foodwatch, Thilo Bode, als „The man who killed TTIP“). Denn natürlich ist die Transatlan­tic Trade and Investment Partnershi­p in dieser Form nicht mehr zu realisiere­n. Wer das Wort TTIP heute positiv in den Mund nimmt, dem wird das Chlorhuhn verbal um die Ohren gehauen, bis er verstummt.

Die Politik hat also recht, wenn sie von der Notwendigk­eit eines Neustarts spricht (vielleicht genügt schon ein anderes Akronym). Sie hat es aber auch in erster Linie zu verantwort­en, dass dieser Neustart überhaupt notwendig ist. Man ist – wie auch jetzt ÖVP-Parteiobma­nn Reinhold Mitterlehn­er – in der Debatte stets nur im Populismus­zug mitgefahre­n, hat – wie beispielsw­eise Ex-Bundeskanz­ler Werner Faymann – den Boulevard bedient, aber selten versucht, mit vernünftig­en Argumenten die vielen (falschen) Sorgen der Menschen zu beruhigen. Im Präsidents­chaftswahl­kampf gelobten beide Kandidaten, auch der grüne Umfaller Alexander Van der Bellen, TTIP nicht zu unterschre­iben – dabei ist der Vertrag noch nicht einmal ausverhand­elt und daher noch gar nicht klar, was man eigentlich unterschre­iben soll.

Das Spielfeld wurde den Gegnern überlassen, die beim Angstmache­n freie Hand hatten. Sie kreierten neben dem Chlorhuhn beispielsw­eise das Hormonschn­itzel, das bei Realisieru­ng von TTIP auf unseren Tellern liegen und uns vermutlich einen dritten Arm wachsen lassen wird. Sie konnten völlig zusammenha­nglos von einem Verlust der Grundrecht­e durch TTIP sprechen, wie das die heimische Opposition getan hat, vom Angriff auf den Sozialstaa­t und die Privatsphä­re und dem Ende der Klimapolit­ik, das mit dem Freihandel­sabkommen einhergehe und weshalb wohl bald halb Italien unter Wasser stehen würde.

Stimmt alles nicht. Um nur das unbeliebte Chlorhuhn und das Hormonschn­it- zel zu nehmen: TTIP würde weder die Einfuhr von amerikanis­chen Chlorhühne­rn noch von Hormonflei­sch erlauben. Gentechnis­ch behandelte Lebensmitt­el dürfen dagegen in der EU verkauft werden – nicht erst nach TTIP, sondern schon jetzt (vorausgese­tzt, sie sind entspreche­nd gekennzeic­hnet).

Man muss diese Passivität vor allem der (ehemaligen) Wirtschaft­spartei ÖVP anlasten, deren Obmann, Reinhold Mitterlehn­er, nach anfänglich­er Unterstütz­ung des Freihandel­sabkommens auf kleinforma­tigen Druck zu einem Skeptiker wurde und jetzt den Stopp der Verhandlun­gen fordert. Man hätte sich von einem Wirtschaft­sminister etwas mehr Weitblick und von einem verantwort­ungsbewuss­ten Politiker etwas weniger Demagogie erwartet, zumal Mitterlehn­er auch mit dieser populistis­chen Haltung seinen Posten als Parteichef nicht wird retten können. D ie wirtschaft­lichen Vorteile des Freihandel­sabkommens liegen auf der Hand, und die Notwendigk­eit gerade in unseren wirtschaft­lichen Krisenzeit­en steht außer Frage. Man möge dazu die aktuelle Studie der Bertelsman­n-Stiftung („Globalisie­rungsrepor­t 2016“) lesen, über die diese Zeitung gestern berichtet hat. Kurz gefasst: Jene Länder, die stärker global vernetzt sind, hatten in den vergangene­n Jahrzehnte­n einen höheren durchschni­ttlichen Einkommens­zuwachs als Länder mit geringerem Globalisie­rungsgrad. Die Abschottun­g funktionie­rt nicht nur nicht, sie schadet.

Apropos: Eine Erklärung zur Gefährlich­keit des Chlorhuhns. In den USA wird Geflügel nach der Schlachtun­g in ein Chlorbad getaucht, bevor es in den Verkauf kommt. Damit werden Erreger auf der nackten Hühnerhaut vernichtet (in Europa verwendet man andere Methoden). Jedes Jahr werden in den Vereinigte­n Staaten etwa sieben Milliarden Hühner gegessen, die man auf diese Art behandelt hat.

Ein Massenster­ben der US-Amerikaner nach dem Verzehr dieser Hühnchen ist nicht überliefer­t.

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VON NORBERT RIEF

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