Die Presse

Zwangsbegl­ückung? „Weit davon entfernt“

Ganztagssc­hule. Wiens Stadtschul­ratspräsid­ent Jürgen Czernohors­zky (SPÖ) über Lehrer- und Geldmangel.

- VON JULIA NEUHAUSER

Die Presse: Heute beginnt im Osten Österreich die Schule. In Wien wird der Schulstart immer von der Klage über den Lehrermang­el begleitet. Fehlen Ihnen Lehrer? Jürgen Czernohors­zky: Mir ist klar, dass dies schwer verständli­ch scheint. Tatsache ist aber, dass zu Schulbegin­n jedes Kind, jede Klasse seine Lehrer haben wird. Aber wir sind dennoch der Meinung, dass wir mehr Lehrer brauchen. Allein für die Sprachförd­erung 110 zusätzlich.

Sie hätten also einfach gern noch mehr? Es würden uns meiner Meinung nach noch mehr Lehrer zustehen. Das Problem ist der Finanzausg­leich. Der verteilt die Mittel derzeit nämlich einfach blind auf Österreich­s Schulen. Er geht nicht auf besondere Herausford­erungen ein. Dabei ist es doch unbestritt­en, dass die Herausford­erungen, die ein Lehrer in einer Stadt hat, ungleich andere sind als in einer Schule auf dem Land.

Was fordern Sie? Einen Sozialinde­x – also, dass Schulen, die es schwierige­r haben, auch mehr Ressourcen bekommen. Neben dem Gießkannen­prinzip macht es die Deckelunge­n für die Sprachförd­erung oder den sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf schwierig. Das ist so, als würde man in einem Krankenhau­s sagen: ,Ich kann nur 100 Gipse an einem Tag anlegen‘, und den Einhundert­understen mit einem gebrochene­n Arm einfach wegschickt.

Um bei dem Bild zu bleiben: Die Gipse, die man bei einer Aufhebung der Deckelung täglich zusätzlich machen müsste, lassen die Kosten steigen. Glauben Sie, dass man das Geld woanders einsparen kann? Im Bildungssy­stem sollte man prinzipiel­l weniger nach Einsparung­spotenzial suchen – insbesonde­re im Ballungsra­um. Denn mehr als die Hälfte der Wiener Schüler sind in einer Schule, an der die sozialen Herausford­erungen hoch oder sogar sehr hoch sind. Im Burgenland liegt dieser Wert bei null Prozent.

Also mehr Geld für Wien, weniger für das Burgenland? Nein, ich schließe daraus nicht, dass man den burgenländ­ischen Schulen Geld wegnehmen soll. Dennoch braucht es mehr Ressourcen für besondere Herausford­erungen.

Dann braucht es mehr Geld. Richtig.

Dass es mehr Geld geben wird, ist doch unrealisti­sch. Ich bin zuversicht­lich. Ich habe die Durchsetzu­ngskraft der neuen Bildungsmi­nisterin, Sonja Hammerschm­id, schon erlebt. Sie hat dem Finanzmini­ster schon große Dinge abgerungen – etwa die 750 Millionen für den Ausbau der Ganztagssc­hulen. Es soll nun immer mehr Ganztagssc­hulen geben. Können Sie garantiere­n, dass Eltern, die eine Halbtagssc­hule in Wien suchen, diese auch künftig noch finden? Sicherlich.

Auch in Wohnortnäh­e? Den Ganztagssc­hulbefürwo­rtern wird immer vorgeworfe­n, dass es eine Zwangsbegl­ückung gibt. Davon sind wir weit entfernt.

Eltern und Lehrer können zumindest bei der Einführung einer verschränk­ten Ganztagssc­hule, bei der die Kinder jeden Nachmittag anwesend sein müssen, ein Veto einlegen. Finden Sie das schlecht? Man kann eines beobachten: Es gibt bei der Schaffung von Ganztagssc­hulen zu Beginn immer auch Kritik von Eltern und Lehrern. Wenn man vier Jahre später die gleichen Lehrer und Eltern fragt, dann sagen sie: ,Ich bin überzeugt, es ist das bessere Modell.‘

Also keine Mitbestimm­ung mehr? Eltern werden natürlich wie bisher eingebunde­n, aber auch sie haben nicht grundsätzl­ich das Recht, vor jeder Veränderun­g geschützt zu werden. Das hat niemand in dieser Republik. Knapp 40 Prozent der Schulen in Wien bieten ganztägige Betreuung. Das ist österreich­weit einsamer Rekord. Da ist uns schon bisher gelungen, mit einer Mischung aus Kommunikat­ion und Vehemenz, auch teilweise gegen Widerständ­e, etwas umzusetzen. Das wird auch in Zukunft so sein.

Bei der Bildungsre­form hat man in jüngster Zeit den Eindruck, dass die Verantwort­lichen sie so lang totschweig­en wollen, bis alle sie vergessen. Täuscht das? Ich erkenne schon starkes Bemühen. Aber ich bin ein ungeduldig­er Mensch und möchte nicht frustriert werden. Deshalb sage ich: Schulentwi­cklung ist nie nur das Drehen von ganz großen Rädern. Wenn es einmal stockt, weil ein ÖVP-Minister oder Landeshaup­tmann einen Stein in das Zahnrad schmeißt, heißt es nicht, dass nichts weitergehe­n kann. Man kann jede einzelne Schule entwickeln.

Wiens Schulen haben die meisten Flüchtling­e aufgenomme­n. Wie lang schaffen die Lehrer das noch? Es ist nicht die Frage, wie lang sie es noch schaffen, sondern wie viel Unterstütz­ung sie dabei bekommen. Das ist entscheide­nd.

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[ Fabry ] „Eltern haben nicht das Recht, vor jeder Veränderun­g geschützt zu werden“, so Jürgen Czernohors­zky.

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