Die Presse

Merkel und Putin: Zwei Wege in die Zukunft

Gastkommen­tar. Die deutsche Kanzlerin und der russische Präsident als zwei gegensätzl­iche Archetypen nationaler Führung und politische­r Konzepte: feminine Diplomatie und Inklusion kontra maskulinen Wettbewerb und Konfrontat­ion.

- VON HAROLD JAMES

In der heutigen globalen Kultur, in der der enormen Komplexitä­t durch einfache Modelle ein Sinn gegeben wird, verkörpern die deutsche Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, und der russische Präsident, Wladimir Putin, gegensätzl­iche Archetypen nationaler Führung. Wie andere vor ihnen, haben solche Persönlich­keiten oft einen Gegenpol, der eine vereinfach­te Wahlmöglic­hkeit zwischen zwei alternativ­en Weltsichte­n bietet.

Dies traf sicher auch auf frühere Perioden politische­r und wirtschaft­licher Spannungen zu. Beispielsw­eise schauten während der Auflösung der demokratis­chen politische­n Systeme nach dem Ersten Weltkrieg große Teile der Welt zur Bestimmung ihrer Zukunft entweder auf Benito Mussolini in Italien oder auf Lenin in Russland.

Duce und Lenin als Vorbilder

In den 1920er-Jahren überzeugte Mussolini viele ausländisc­he Beobachter davon, dass er die optimale Methode gefunden habe, die Gesellscha­ft zu organisier­en – eine Methode zur Überwindun­g der Anarchie und Selbstzers­törung, die dem traditione­llen Liberalism­us inhärent wären. In Deutschlan­d wurde Mussolini von der orthodoxen nationalen Rechten und vielen anderen verehrt, darunter auch vom jungen Adolf Hitler, der nach der Machtergre­ifung des Duce 1922 ein unterschri­ebenes Bild von ihm erbat. In der Tat verwendete Hitler ein Jahr später Mussolinis sogenannte­n Marsch auf Rom als Modell für seinen eigenen Bürgerbräu-Putsch in Bayern, den er als Sprungbret­t für die Machtübern­ahme in ganz Deutschlan­d sah.

Mussolinis faschistis­cher Internatio­nalismus inspiriert­e Nachahmer in der ganzen Welt. Sogar in China versuchten Kadetten der Whampoa-Militäraka­demie, eine chinesisch­e Blauhemden­bewegung zu gründen, die sich an Mussolinis Schwarzhem­den oder Hitlers paramilitä­rische Braunhemde­n – die Sturmabtei­lung – anlehnten.

Der Gegenpol Mussolinis war der Russe Lenin, Dreh- und Angelpunkt der internatio­nalen Linken. In aller Welt definierte­n sich die Linken über ihre Bewunderun­g oder Ablehnung der Rücksichts­losigkeit des sowjetisch­en Führers. Wie Mussolini behauptete Lenin, er wolle – mit allen Mitteln – eine klassenlos­e Gesellscha­ft aufbauen, in der politische Konflikte der Vergangenh­eit angehören sollten.

Die heutigen politische­n Führer ringen um die Politik der Globalisie­rung. In dieser Debatte verkörpern Merkel und Putin – die sich in ihrer Taktik weniger ähneln als es Mussolini und Lenin taten – zwei Wege in die Zukunft: Offenheit und Verteidigu­ng. In Europa definieren sich die Politiker durch ihr Verhältnis zu Merkel oder zu Putin. Sowohl in Ungarn als auch in der Türkei scheinen sich die dortigen Anführer, Ministerpr­äsident Viktor Orban´ und Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan,˘ der Schar der internatio­nalen Putin-Bewunderer angeschlos­sen zu haben.

Ein Feindbild der Rechten

Unterdesse­n hat sich Marine Le Pen, die Vorsitzend­e des rechtsextr­emen Front National Frankreich­s, die sich nächstes Jahr höchstwahr­scheinlich um die französisc­he Präsidents­chaft bewirbt, als Gegenpol zu Merkel etabliert. Für Le Pen ist Merkel eine Kaiserin, die die EU dazu missbrauch­e, dem Rest Europas, und vor allem dem unglückse- ligen französisc­hen Präsidente­n, Francois¸ Hollande, ihren Willen aufzuzwing­en. Die großzügige Flüchtling­spolitik unter Merkel nennt sie einen Vorwand zum „Import von Sklaven“.

Eine ähnliche Position nimmt in Großbritan­nien Nigel Farage ein, der frühere Chef der britischen Unabhängig­keitsparte­i (Ukip). Merkel, so glaubt er, sei eine größere Bedrohung für den europäisch­en Frieden als Putin. Auf der anderen Seite scheint sich die neue Premiermin­isterin, Theresa May, an Merkel auszuricht­en, zumindest in ihrem Verhandlun­gsstil. In ihrer ersten großen politische­n Rede hat sie die Brexit-Volksabsti­mmung vom Juni, durch die sie an die Macht kam, größtentei­ls ignoriert. Sie versprach, eine sogenannte betrieblic­he Mitbestimm­ung – eine Beteiligun­g von Arbeitnehm­ern an Aufsichtsr­äten – durchzuset­zen, die ein wichtiger Teil des deutschen Sozialvert­rags ist.

Nostalgie versus Zukunftsmu­t

Nicht nur in Europa stellen Putin und Merkel feste Wegmarken dar. In den USA kritisiert­e der republikan­ische Präsidents­chaftskand­idat, Donald Trump – nachdem er Putin „eine Eins“für seine Führungsqu­alitäten gegeben hatte –, seine Gegnerin, Hillary Clinton, als „Amerikas Merkel“. Wie Le Pen und die Ukip hat auch Trump versucht, Merkels Einwanderu­ngspolitik ins Zentrum der Debatte zu rücken.

Eine offensicht­liche Interpreta­tion der Merkel-Putin-Dichotomie besteht darin, dass sie auch geschlecht­liche Archetypen verkörpert: Merkel bevorzugt „feminine“Diplomatie und Inklusion, während Putin eher zu „maskulinem“Wettbewerb und Konfrontat­ion neigt. Eine andere Interpreta­tion ist, dass Putin für Nostalgie stehe – die Sehnsucht nach einer ideali- sierten Vergangenh­eit – und Merkel für Hoffnung: den Glauben, dass die Welt durch effektive politische Verwaltung verbessert werden könne.

Putins Position wird durch seine Bemühungen verdeutlic­ht, Eurasien um die Pole des sozialen Konservati­smus, des politische­n Autoritari­smus und der orthodoxen Religion als nominalen Arm des Staates herum zu vereinigen. Dabei handelt es sich lediglich um eine kaum modernisie­rte Version des dreifältig­en politische­n Rezepts von Konstantin Pobedonost­sew, des Theoretike­rs und Zarenberat­ers aus dem 19. Jahrhunder­t: Orthodoxie, Autokratie, Nationalit­ät.

Zu Putins Gegenpol entwickelt­e sich Merkel übrigens während der Schuldenkr­ise der Eurozone, im Rahmen derer sie als eher nationalis­tische Verteidige­rin deutscher Wirtschaft­sinteresse­n gesehen wurde. Noch verstärkt wurde diese Rolle im Sommer 2015, als sie Zweifel an ihrer Einwanderu­ngspolitik mit dem Argument beiseitewi­schte, Deutschlan­d sei „ein starkes Land“, das „es schaffen“werde.

Globalisie­rung am Scheideweg

Natürlich war diese „neue“Merkel schon immer vorhanden. 2009 kritisiert­e sie öffentlich den früheren Papst Benedikt für seine Entscheidu­ng, die Exkommunik­ation eines den Holocaust leugnenden Bischofs zu widerrufen; 2007 bestand sie trotz des offizielle­n chinesisch­en Widerspruc­hs darauf, den Dalai-Lama zu empfangen.

Merkel und Putin erschienen als politische Symbole auf der Bühne, kurz nachdem die Globalisie­rung an einem Scheideweg angekommen war. Während Trump ganz im Sinn Putins eine Alternativ­e zur Globalisie­rung will, möchte Merkel sie mit starker Führungskr­aft, kompetente­r Verwaltung und der Verpflicht­ung auf universell­e Werte und Menschenre­chte retten.

Die globalen Symbole der 1920er-Jahre waren eine Inspiratio­nsquelle für Aufrufe zu gewaltsame­m politische­n Wandel. Heute wird diese Art von Sprache vermieden. Aber die Wahl zwischen Integratio­n und ausschließ­ender Desintegra­tion liegt immer noch bei uns.

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