EU-Austritt: Ein Pokerspiel mit hohem Einsatz
Artikel 50. Seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags hat die EU eine Austrittsklausel. Die Prozedur der Scheidung ist klar festgelegt – doch ohne politisches Tauziehen wird es nicht gehen.
Brüssel. Brexit heißt Brexit – seit dem Amtsantritt von Theresa May als Premierministerin Großbritanniens Anfang Juli gilt dieses Motto für die Beziehungen zwischen dem Königreich und der Europäischen Union. Trotz aller Unklarheiten, Unwägbarkeiten und Uneinigkeiten werde am EU-Austritt nicht gerüttelt, betont May, die während des Brexit-Referendums dezent im Hintergrund geblieben ist, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nur: Wie sich die Premierministerin den Brexit konkret vorstellt, war selbst ein Vierteljahr nach dem Referendum weder der britischen Öffentlichkeit noch den europäischen Partnern Großbritanniens klar – und vermutlich auch May selbst nicht.
Dass nach dem Votum der Briten das große Rätselraten herrscht, liegt in der Natur der Sache: Wie ein geregelter Austritt aus der EU vonstattengehen soll, ist zwar formal geregelt, doch in der Praxis gibt es unterschiedliche Auffassungen zum Prozedere – beispielsweise bei der Frage, ob es einen Rücktritt vom Austritt geben kann. Ja, sagt etwa der ehemalige Chefjurist der EU-Kommission, Jean-Claude Piris, der am LissabonVertrag mitgeschrieben hat. Nein, behauptet indes das Lager der Brexit-Befürworter.
Doch alles der Reihe nach. Die Person Jean-Claude Piris ist insofern von Bedeutung, als es bis zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags 2009 gar keine Möglichkeit des Austritts gegeben hat – die EU funktionierte sozusagen nach dem Prinzip eines Mafiaclans. Wobei es diesbezüglich auch vorher unterschiedliche Meinungen gegeben hat, denn die Wiener Konvention über das Recht der Verträge aus dem Jahr 1969 sieht vor, dass ein souveräner Staat jeden internationalen Vertrag unter Einhaltung einer zwölfmonatigen Frist kündigen kann. Insofern hatte die EU stets einen völkerrechtlichen Notausgang – diese Art des Abschieds wäre freilich alles andere als geregelt gewesen.
Die im Artikel 50 des Lissabon-Vertrags enthaltenen Vorschriften legten erstmals einen prozeduralen Pfad aus Europa fest – allerdings geben die EU-Verträge nicht vor, unter welchen Umständen ein Austritt erfolgen darf, sondern überlassen diese Entscheidung der nationalen Politik – beziehungsweise den verfassungsrechtlichen Vorschriften, von denen im Artikel 50, Absatz eins, die Rede ist.
Der Countdown läuft
Den ersten Schritt muss jedenfalls May setzen, indem sie ihre EU-Kollegen im Europäischen Rat (dem Gremium der Staat- und Regierungschefs) offiziell davon in Kenntnis setzt, dass Großbritannien auszutreten gedenkt. Ab diesem Moment läuft ein Countdown. Nachdem der Rat (ohne Mitwirkung des austrittswilligen Mitglieds) seine Leitlinien für die Verhandlungen festgelegt hat, haben die Parteien (London auf der einen, die EU-Kommission auf der anderen Seite des Verhandlungstischs) genau zwei Jahre Zeit, um ein Abkommen über die Ein-
zelheiten des Austritts zu fixieren. Liegt das Abkommen vor, müssen noch der EU-Ministerrat und das Europaparlament ihren Sanktus geben – wiederum unter Ausschluss des austretenden Mitglieds. Damit wäre der Austritt perfekt.
Was passiert, wenn es innerhalb der Zweijahresfrist keine gütliche Einigung gibt? Dann wird der Austritt automatisch vollzogen – und zwar unabhängig davon, ob die Modalitäten des künftigen Zusammenlebens vereinbart wurden oder nicht. Genau diese Fristsetzung macht die Austrittsverhandlungen zu einem Pokerspiel mit hohem Einsatz. Denn je lauter die Uhr tickt, desto einfacher hat es die Brüsseler Behörde, ihr Gegenüber unter Druck zu setzen – denn jede Regelung ist besser als ein chaotischer Austritt, bei dem das Land alle mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Privilegien schlagartig verliert. Aus der Perspektive des austrittswilligen Mit- gliedstaats wiederum ist es sinnvoll, mit der Aktivierung des Artikels 50 so lang zuzuwarten, bis man sich informell auf einen neuen Modus Vivendi geeinigt hat – und notfalls die Zugeständnisse der anderen Mitglieder mittels Obstruktionspolitik erzwingt. Denn bis zum offiziellen Austritt bleiben alle Rechte und Pflichten unangetastet: So müssen die Briten beispielsweise weiter ins EU-Budget einzahlen, können aber theoretisch in Politikbereichen, in denen Einstimmigkeit gefragt ist, Druck erzeugen und mit dem Veto drohen.
Was könnte die EU in diesem Fall tun? Nach dem Brexit-Referendum wurde über die Möglichkeit spekuliert, die offizielle Verkündung des Abstimmungsergebnisses als Beginn des Countdowns zum Brexit festzulegen. Aber damit würde Europa rechtliches Neuland betreten und den Konflikt mit London auf die Spitze treiben.