Die Presse

EU-Austritt: Ein Pokerspiel mit hohem Einsatz

Artikel 50. Seit dem Inkrafttre­ten des Lissabon-Vertrags hat die EU eine Austrittsk­lausel. Die Prozedur der Scheidung ist klar festgelegt – doch ohne politische­s Tauziehen wird es nicht gehen.

- Von unserem Korrespond­enten MICHAEL LACZYNSKI

Brüssel. Brexit heißt Brexit – seit dem Amtsantrit­t von Theresa May als Premiermin­isterin Großbritan­niens Anfang Juli gilt dieses Motto für die Beziehunge­n zwischen dem Königreich und der Europäisch­en Union. Trotz aller Unklarheit­en, Unwägbarke­iten und Uneinigkei­ten werde am EU-Austritt nicht gerüttelt, betont May, die während des Brexit-Referendum­s dezent im Hintergrun­d geblieben ist, bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t. Nur: Wie sich die Premiermin­isterin den Brexit konkret vorstellt, war selbst ein Vierteljah­r nach dem Referendum weder der britischen Öffentlich­keit noch den europäisch­en Partnern Großbritan­niens klar – und vermutlich auch May selbst nicht.

Dass nach dem Votum der Briten das große Rätselrate­n herrscht, liegt in der Natur der Sache: Wie ein geregelter Austritt aus der EU vonstatten­gehen soll, ist zwar formal geregelt, doch in der Praxis gibt es unterschie­dliche Auffassung­en zum Prozedere – beispielsw­eise bei der Frage, ob es einen Rücktritt vom Austritt geben kann. Ja, sagt etwa der ehemalige Chefjurist der EU-Kommission, Jean-Claude Piris, der am LissabonVe­rtrag mitgeschri­eben hat. Nein, behauptet indes das Lager der Brexit-Befürworte­r.

Doch alles der Reihe nach. Die Person Jean-Claude Piris ist insofern von Bedeutung, als es bis zum Inkrafttre­ten des Lissabon-Vertrags 2009 gar keine Möglichkei­t des Austritts gegeben hat – die EU funktionie­rte sozusagen nach dem Prinzip eines Mafiaclans. Wobei es diesbezügl­ich auch vorher unterschie­dliche Meinungen gegeben hat, denn die Wiener Konvention über das Recht der Verträge aus dem Jahr 1969 sieht vor, dass ein souveräner Staat jeden internatio­nalen Vertrag unter Einhaltung einer zwölfmonat­igen Frist kündigen kann. Insofern hatte die EU stets einen völkerrech­tlichen Notausgang – diese Art des Abschieds wäre freilich alles andere als geregelt gewesen.

Die im Artikel 50 des Lissabon-Vertrags enthaltene­n Vorschrift­en legten erstmals einen prozedural­en Pfad aus Europa fest – allerdings geben die EU-Verträge nicht vor, unter welchen Umständen ein Austritt erfolgen darf, sondern überlassen diese Entscheidu­ng der nationalen Politik – beziehungs­weise den verfassung­srechtlich­en Vorschrift­en, von denen im Artikel 50, Absatz eins, die Rede ist.

Der Countdown läuft

Den ersten Schritt muss jedenfalls May setzen, indem sie ihre EU-Kollegen im Europäisch­en Rat (dem Gremium der Staat- und Regierungs­chefs) offiziell davon in Kenntnis setzt, dass Großbritan­nien auszutrete­n gedenkt. Ab diesem Moment läuft ein Countdown. Nachdem der Rat (ohne Mitwirkung des austrittsw­illigen Mitglieds) seine Leitlinien für die Verhandlun­gen festgelegt hat, haben die Parteien (London auf der einen, die EU-Kommission auf der anderen Seite des Verhandlun­gstischs) genau zwei Jahre Zeit, um ein Abkommen über die Ein-

zelheiten des Austritts zu fixieren. Liegt das Abkommen vor, müssen noch der EU-Ministerra­t und das Europaparl­ament ihren Sanktus geben – wiederum unter Ausschluss des austretend­en Mitglieds. Damit wäre der Austritt perfekt.

Was passiert, wenn es innerhalb der Zweijahres­frist keine gütliche Einigung gibt? Dann wird der Austritt automatisc­h vollzogen – und zwar unabhängig davon, ob die Modalitäte­n des künftigen Zusammenle­bens vereinbart wurden oder nicht. Genau diese Fristsetzu­ng macht die Austrittsv­erhandlung­en zu einem Pokerspiel mit hohem Einsatz. Denn je lauter die Uhr tickt, desto einfacher hat es die Brüsseler Behörde, ihr Gegenüber unter Druck zu setzen – denn jede Regelung ist besser als ein chaotische­r Austritt, bei dem das Land alle mit der EU-Mitgliedsc­haft verbundene­n Privilegie­n schlagarti­g verliert. Aus der Perspektiv­e des austrittsw­illigen Mit- gliedstaat­s wiederum ist es sinnvoll, mit der Aktivierun­g des Artikels 50 so lang zuzuwarten, bis man sich informell auf einen neuen Modus Vivendi geeinigt hat – und notfalls die Zugeständn­isse der anderen Mitglieder mittels Obstruktio­nspolitik erzwingt. Denn bis zum offizielle­n Austritt bleiben alle Rechte und Pflichten unangetast­et: So müssen die Briten beispielsw­eise weiter ins EU-Budget einzahlen, können aber theoretisc­h in Politikber­eichen, in denen Einstimmig­keit gefragt ist, Druck erzeugen und mit dem Veto drohen.

Was könnte die EU in diesem Fall tun? Nach dem Brexit-Referendum wurde über die Möglichkei­t spekuliert, die offizielle Verkündung des Abstimmung­sergebniss­es als Beginn des Countdowns zum Brexit festzulege­n. Aber damit würde Europa rechtliche­s Neuland betreten und den Konflikt mit London auf die Spitze treiben.

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„Wir sind draußen.“Einen Tag nach dem Brexit-Referendum zeigten
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[ AFP] sich viele Briten überrascht. Auch die Regierung war von einem Verbleib ausgegange­n.

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