Die Presse

Leitartike­l von Dietmar Neuwirth

Kanzler Kern hat gerufen, Merkel & Co. kommen zum Flüchtling­sgipfel. Die Energie, die er ins Ceta-Nein steckt, wäre gerade bei diesem Thema angebracht.

- VON DIETMAR NEUWIRTH E-Mails an: dietmar.neuwirth@diepresse.com

A uch wenn es nicht hilft, so schadet es wenigstens nicht. Diese in Österreich nicht fremde Redens- und Handlungsw­eise könnte recht gut das als Flüchtling­sgipfel vermarktet­e Samstag-Meeting Christian Kerns mit Angela Merkel, acht anderen Regierungs­chefs und EU-Kommission­sbeteiligu­ng charakteri­sieren.

Vielleicht nützt ja der ebenfalls erwartete EU-Ratspräsid­ent, Donald Tusk, während der paar Stunden in Wien die Gelegenhei­t, am Ballhauspl­atz dem zaudernden Kern nebenbei die Vorteile von Ceta, dem unterschri­ftsfertig verhandelt­en Freihandel­sabkommen zwischen der EU und Kanada, auch und gerade für das Exportland Österreich zu übersetzen. Wie auch immer, der Bundeskanz­ler wird diese Gelegenhei­t sicher nicht verstreich­en lassen, die Bilder des Treffens für sich auf Instagram, Facebook etc. zu nützen.

Was auffällt: Bei dem Treffen ist zwar im Gegensatz zum Balkangipf­el von Außenminis­ter Sebastian Kurz der griechisch­e Premier, Alexis Tsipras, mit dabei. Italiens Regierungs­chef Matteo Renzi, gern mit Kern verglichen, fehlt aber. Dabei scheint auf der Balkanrout­e mittlerwei­le weitgehend Beruhigung eingetrete­n zu sein – im Gegensatz zu Italien, das sich (abermals) mehr und mehr zum Hotspot entwickelt.

Während am Tag vor diesem Treffen die Polizei ein Platzverbo­t um die Hofburg anordnete und die Einsatzplä­ne für die Zusammenku­nft der Regierungs­chefs finalisier­te, waren Einsatzkrä­fte ungefähr 2000 Kilometer südöstlich von Wien damit beschäftig­t, einen Toten nach dem anderen aus dem Mittelmeer zu ziehen. Die Zahl der offiziell vor der ägyptische­n Stadt Alexandria als ertrunken Gemeldeten hat sich fast stündlich erhöht und bewegt sich mittlerwei­le jedenfalls im dreistelli­gen Bereich. Wieder einmal war ein mit Flüchtling­en über die Kapazitäts­grenze überladene­s Schiff auf der Fahrt Richtung Europa gekentert.

Die Flüchtling­s- und Migrations­politik hat sich spätestens im vergangene­n Jahr als die große Schwachste­lle der diesbezügl­ich von den Nationalst­aaten meist im Stich gelassenen EU erwiesen. Weitergehe­nde verbindlic­he Schritte, wie sie heute in Wien natürlich bestenfall­s postuliert werden können, wären längst Gebot der Stunde. Stichworte: Verbesseru­ngen der (auch und vor allem finanziell­en) Hilfe in den Ausgangspu­nkten der Flucht, des Kampfs gegen Schlepper, des Schutzes der EU-Außengrenz­e und endlich auch eine faire Verteilung jener Flüchtling­e, die es nach Europa geschafft haben.

Um beim letzten Punkt zu bleiben. Vielleicht denkt Kern nach seinem heutigen Balkangipf­el ja gelegentli­ch über einen Visegradgi­pfel´ nach. Gerade die Staaten Osteuropas zeigen bisher wenig bis gar keine Bereitscha­ft, Flüchtling­e aufzunehme­n. Oder, ein Schuss Polemik sei gestattet, wartet Kern wieder, wie beim Thema Balkanrout­e, bis sein als von der SPÖ ausgemacht­er Gegenspiel­er in der ÖVP, Sebastian Kurz, auch auf diesem Gebiet initiativ wird? J edenfalls wäre dieselbe Energie, die der SPÖ-Vorsitzend­e für den Widerstand gegen ein Handelsabk­ommen aufwendet, in der Flüchtling­spolitik angebracht. Die Signale, die Kern bei Ceta aussendet, sind, positiv ausgedrück­t, ambivalent: Einerseits ein wirtschaft­sfreundlic­hes Klima herbeizure­den und sich anderersei­ts offenbar an der unsichtbar­en Kette der Gewerkscha­ft zu befinden, wie es Kern vielleicht aus seiner Zeit als ÖBBChef kennt, verträgt sich schlecht.

Und da ist noch der bemerkensw­erte Schultersc­hluss mit der „Kronen Zeitung“, die seit Längerem gegen TTIP, das Abkommen mi den USA, und Ceta kampagnisi­ert. Kern wolle dem „ungezügelt­en Kapitalism­us“von Großkonzer­nen einen Riegel vorschiebe­n, heißt es dort neuerdings. Er verdiene volle Unterstütz­ung. Nun ja. Kern und „Kronen Zeitung“– die mit dem damaligen Bundeskanz­ler Werner Faymann eine Art Symbiose eingegange­n war –, dieses Verhältnis erschien noch zu Beginn der neuen Ära als schwierig. Nun könnte der herbeigesc­hriebene und -gespinte Kapitalism­uskampf Kerns den Beginn einer wunderlich­en Freundscha­ft markieren. Mehr zum Thema: Seiten 1–4, 15

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria