Offener Hemdkragen
Für Thomas Chorherr schreit die „Entbürgerlichung“nach einem Aufstand des Bürgertums.
Eine Warnung. Die Konsumation dieses Buches kann Nebenwirkungen auslösen: Rührung, gepaart mit einem Schuss Nostalgie, vielleicht auch eine leichte Form von Resignation. Denn hier wird ein Requiem zelebriert. Nein, natürlich nicht nur auf die Krawatte, die ist als Synonym für das Bürgertum verstanden. Was ist „bürgerlich“? Was versteht man unter „Bürgertum“? Und wo finden wir heute Restbestände dieser Gesellschaftsschicht? Fragen, die den früheren „Presse“-Chefredakteur Thomas Chorherr schon seit vielen Jahren beschäftigen – ihn, der sich stets als Bildungsbürger bezeichnet.
Chorherr packt seinen Untersuchungsgegenstand von mehreren Seiten an. Stil etwa? Eleganz? Kommt es also auf die äußere Verpackung des Citoyens an, eben auf die erwähnte Krawatte? Nein, das ist nette Nebensächlichkeit. Aber was dann? „Das sagt man nicht“, ist für ihn ein Schlüsselwort in der Erziehung im bürgerlichen Heim, das gewisse „G’hört sich“, das er schmerzlich vermisst.
Unterspickt und gepfeffert wird die emotionale Philippika mit Anekdoten aus Chorherrs langem Journalistenleben, mit seligen Erinnerungen an den ersten Opernball nach dem Kriege und an rührend anmutende Spiele seiner (bürgerlichen) Jugend: Tanzkränzchen, Scharaden, naiver Zeitvertreib einer Jugend, die offensichtlich trotz furchtbarer Kriegserlebnisse Stil, Haltung, Klasse bewies.
„Nochmals, und immer wieder: Wo sind die Zeiten“, beklagt der alte Herr. Milder ist er geworden, wenn er die Kleidung seiner Sitznachbarn im Philharmonischen Konzert beobachtet, sanfter sein Zorn über jene Rücksichtslosen, die vor dem Rollstuhlbenutzer in einen Lift drängen. „Zu meiner Zeit . . .“– mehrfach finden wir diese Wendung, eine Art von Gottergebenheit, die an dem sonst so Optimistischen eigentlich verwundert. Nun ja, die Bussi-Bussi-Snobciety ist nicht sein Fall, eher ein typisches Beispiel für die um sich greifende Entbürgerlichung. Dass jüngere Mitarbeiter in seiner Zeitung, der „Presse“, schon vor vielen Jahren untereinander sofort per Du verkehrten, hat ihn schon damals gestört. Es stört ihn immer noch.
Bildung, Halbbildung, Unbildung
Entbürgerlichung: Allüberall, hinter jeder Ecke wittert der Autor Anzeichen sittlicher Verlotterung. Und so seufzen wir mit ihm. Wir wälzen mit ihm empirische Daten, die nur allzu deutlich signalisieren: „Die Bevölkerungsschichten laufen Gefahr, ineinander zu verschmelzen.“Der Mittelstand, so der Befund, schwindet dahin. Immer mehr Geschäftsleute sperren zu und machen anonymen Kettenläden Platz. „Bildung, Halbbildung, Unbildung“nennt Chorherr ein Kapitel. Denn an diesen Begriffen mag sich das verdämmernde Traumbild des Bürgertums noch am ehesten festmachen. Und, sicher nicht falsch die Beobachtung: „Der TV-Apparat steht heute bei vielen Familien dort, wo eigentlich Bücher aufgereiht sein sollten – und früher gewiss auch waren. In bürgerlichen, noch nicht entbürgerlichten Familien.“
Requiem hat eigentlich mit dem Tod zu tun. Aber unser Autor erkennt im Requiem viel eher den musikalischen Ausdruck der Hoffnung auf die Auferstehung. „Die Entbürgerlichung ist noch nicht so weit fortgeschritten, hat sich noch nicht so tief eingefressen, dass nicht noch eine Umkehr möglich wäre“, schließt er, „die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Hoffen wir’s.