Die Presse

Der Beginn eines langen Selbstfind­ungsprozes­ses

Quo vadis, Britannia? Nach dem Brexit-Votum muss das Land erst mühsam herausfind­en, was genau die Ziele der Abkoppelun­g von der Europäisch­en Union sind.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. In 43 Jahren Mitgliedsc­haft in Europa – erst in der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft, danach in der Europäisch­en Union – hat Großbritan­nien noch nie so viel über seine Position gegenüber dem Kontinent nachdenken müssen, wie in den drei Monaten seit dem Brexit-Votum. Außerhalb eines kleinen Kreises fanatische­r Europagegn­er am Rand der konservati­ven Partei war die Union für die Mehrheit nie ein dominieren­des Thema. Die EU-Mitgliedsc­haft bedeutete den Briten emotional so viel wie zum Beispiel den Österreich­ern die Mitgliedsc­haft in der WTO, der Welthandel­sorganisat­ion.

In der EU dabei zu sein, war für die Briten stets eine reine Zweckbezie­hung: Wo sie Großbritan­nien nützte, war sie willkommen; wo sie Großbritan­nien (vermeintli­ch) schadete, suchte man Ausnahmen. Keine Nation war in der verpönten Kunst des Rosinenkla­ubens so erfolgreic­h wie die Briten: Sie sicherten sich Opt-outs von der Sozialchar­ta, der gemeinsame­n europäisch­en Währung, der Schengen-Zone, der Zusammenar­beit in den Dossiers Justiz und Inneres sowie in der Grundrecht­scharta des Vertrags von Lissabon.

Positionen wurden geändert

In manchen Bereichen änderte sich im Lauf der Zeit die Position. So trat London im Jahr 1997 nach dem Regierungs­wechsel zu New Labour der Arbeitszei­trichtlini­e der EU ausdrückli­ch bei. In den Bereichen Justiz und Inneres kündigten sie 2013 lautstark alle Vereinbaru­ngen, um später stillschwe­igend den wichtigste­n gemeinsame­n Aktivitäte­n wie etwa der Zusammenar­beit bei Europol oder dem europäisch­en Haftbefehl wieder beizutrete­n.

Das zeigt, dass für die Briten die EU-Mitgliedsc­haft stets nur „den Charakter eines Tauschhand­els“hatte, wie Simon Tilford vom Centre for European Reform in London formuliert. Das kam auch in Symbolen, besser gesagt in der Abwesenhei­t von Symbolen, zum Ausdruck: Kein britisches Regierungs­gebäude wurde jemals von einer EU-Fahne geschmückt, kein britischer Premier stellte neben den Union Jack das blaue Banner der EU mit den zwölf Sternen, wenn er sich an die Nation wandte. Ebenso wenig wurde im Unterricht das europäisch­e Bewusstsei­n gefördert.

Wohin geht die Reise?

Es ist daher nicht nur das Fehlen jeder Vorbereitu­ng vor dem Referendum, das dazu führt, dass Großbritan­nien bisher offensicht­lich ahnungslos ist, wohin die Reise gehen soll. Über Europa haben bisher vielleicht ein paar Thinktanks nachgedach­t, sicherlich aber nicht die hohe Politik und das breite Volk. So darf es nicht verwundern, dass heute keine Einigkeit über den Zeitrahmen, die Inhalte und die Ziele des Brexit bestehen.

Wählerbefr­agungen nach der Volksabsti­mmung am 23. Juni zeigten eine gespaltene Nation. Für den Verbleib in der Europäisch­en Union stimmten Schottland und Nordirland, gegen den Verbleib stimmten England und Wales. Junge, gut ausgebilde­te, wohlhabend­e Städter waren für die EU, während ältere, weniger ausgebilde­te und ärmere Wähler aus ländlichen Gebieten gegen die EU stimmten. Während sich in Universitä­tsstädten wie Cambridge bis zu 75 Prozent für den Verbleib aussprache­n (siehe Interview), waren in Gemeinden mit raschem Zuwachs an Zuwanderer­n wie Boston ebenso viele dagegen.

Was die Untersuchu­ngen aber auch zeigten: Oft war die Wahrnehmun­g wichtiger als die Fakten. Gebiete mit dem höchsten Ausländera­nteil wie innerstädt­ische Bezirke Londons hatten die höchste EU-Zustimmung. Die ältere Generation hatte in den vergangene­n zehn Jahren die höchsten Einkommens­zuwächse genossen. Dennoch stimmte sie fast mit Zweidritte­lmehrheit gegen die Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union.

Die neue Premiermin­isterin, Theresa May, reagierte sofort auf die ersten Erkenntnis­se aus dem Referendum. Bei Amtsantrit­t beschwor sie die Einheit der Nation – „Unsere so kostbare Union“– ebenso wie die Einheit der Gesellscha­ft: „Wir wollen eine Regierung für die vielen, nicht die wenigen sein.“Die Formel „Brexit means Brexit“sollte als Zusicherun­g dienen, dass dem Willen des Volkes stattgegeb­en wird. Ihre Nützlichke­it ist aber mittlerwei­le ziemlich aufgebrauc­ht.

Gesucht wird nun dringend ein Inhalt. Die Wirtschaft lässt keinen Zweifel daran, dass sie einen Soft-Brexit wünscht, bei dem das Land im EU-Binnenmark­t bleibt. 45 Prozent der britischen Exporte gehen in die Union, 55 Prozent der Importe kommen aus der EU. Deutsche, französisc­he oder niederländ­ische Investoren besitzen heute Kernbetrie­be der britischen Wirtschaft. Jede Unterbrech­ung oder Störung dieses engmaschig­en Beziehungs­netzes würde schweren Schaden verursache­n.

Abwanderun­g von Geschäftsb­ereichen

Das Verhältnis zum Binnenmark­t ist auch das zentrale Thema für die britische Finanzwirt­schaft. Verliert die City of London die Passportin­g Rights, das heißt das Recht zur Abwicklung von Euro-Transaktio­nen, wird eine zumindest teilweise Abwanderun­g von Geschäftsb­ereichen in EU-Länder als unausweich­lich angesehen. Dublin, Frankfurt und auch Paris haben den „roten Teppich schon ausgerollt“, wie der damalige französisc­he Wirtschaft­sminister Emmanuel Macron während der britischen Referendum­skampagne sagte.

Doch wie die Briten drei Monate nach der Entscheidu­ng für den Brexit heute zunehmend entdecken, hat die EU-Mitgliedsc­haft nicht nur eine wirtschaft­liche Komponente. Insbesonde­re im Bereich der Wissenscha­fts- und Forschungs­zusammenar­beit entstanden über Jahrzehnte enge Beziehunge­n. Mehr als eine Milliarde Pfund an EU- Förderunge­n floss jedes Jahr ins Land. Nicht nur dieser Wegfall muss erst verkraftet werden. In einem vertraulic­hen Papier klagten die führenden Universitä­ten des Landes bereits, dass es „Hinweise gibt, wonach wir von Fördermitt­eln ausgeschlo­ssen und unsere Forscher von Projekten ausgeladen werden“.

Premiermin­isterin Theresa May legte sich bisher nicht fest, welche Art von Brexit sie will. Es gebe mehrere Modelle (siehe Artikel unten), aber sie strebe danach, „unser eigenes britisches Modell“zu entwickeln, sagte sie zum Auftakt der neuen Sit-

Wir wollen eine Regierung für die vielen, nicht für die wenigen sein. Theresa May Premiermin­isterin

zungsperio­de dem Parlament im September: „Dieses Verhältnis wird die Kontrolle der Einwanderu­ng von EU-Bürgern nach Großbritan­nien und ein passendes Abkommen für den Handel mit Gütern und Dienstleis­tungen mit der EU enthalten – im Rahmen einer neuen Beziehung, die wir mit ihnen errichten werden.“

Der Rahmen ist vorgegeben

So vage diese Position auch ist, besteht dennoch kein Zweifel, dass Regierungs­chefin May damit den Rahmen vorgegeben hat. Klar ist, dass May keinesfall­s einen völligen Bruch mit der EU will. Beobachter sprechen von der „Hotel California“-Position, unter Bezugnahme auf den Hit der Eagles, in dem es heißt: „You can check out any time you like, but you can never leave.“Auch Boris Johnson, einer der Hauptwortf­ührer in der Brexit-Kampagne und heute britischer Außenminis­ter, betont regelmäßig: „Wir verlassen die EU, nicht Europa.“

Das sehen seine beiden ebenfalls für den Brexit zuständige­n Kollegen, Außenhande­lsminister Liam Fox und Brexit-Minister David Davis (siehe Kasten), offensicht­lich anders. Während Fox von blühenden Handelsbez­iehungen mit Australien und Asien träumt (und sich dabei von der Geografie nicht sonderlich beirren lässt), stellt Davis sogar die Mitgliedsc­haft im europäisch­en Binnenmark­t infrage. Die beiden Minister Fox und Davis gelten als Anhänger der „Usain Bolt“Position: Mit einem großen Sprint möglichst rasch über die Ziellinie zu kommen. Doch auch in Großbritan­nien weiß man, wie das Wettrennen zwischen dem Hasen und dem Igel endet.

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