Der Beginn eines langen Selbstfindungsprozesses
Quo vadis, Britannia? Nach dem Brexit-Votum muss das Land erst mühsam herausfinden, was genau die Ziele der Abkoppelung von der Europäischen Union sind.
London. In 43 Jahren Mitgliedschaft in Europa – erst in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, danach in der Europäischen Union – hat Großbritannien noch nie so viel über seine Position gegenüber dem Kontinent nachdenken müssen, wie in den drei Monaten seit dem Brexit-Votum. Außerhalb eines kleinen Kreises fanatischer Europagegner am Rand der konservativen Partei war die Union für die Mehrheit nie ein dominierendes Thema. Die EU-Mitgliedschaft bedeutete den Briten emotional so viel wie zum Beispiel den Österreichern die Mitgliedschaft in der WTO, der Welthandelsorganisation.
In der EU dabei zu sein, war für die Briten stets eine reine Zweckbeziehung: Wo sie Großbritannien nützte, war sie willkommen; wo sie Großbritannien (vermeintlich) schadete, suchte man Ausnahmen. Keine Nation war in der verpönten Kunst des Rosinenklaubens so erfolgreich wie die Briten: Sie sicherten sich Opt-outs von der Sozialcharta, der gemeinsamen europäischen Währung, der Schengen-Zone, der Zusammenarbeit in den Dossiers Justiz und Inneres sowie in der Grundrechtscharta des Vertrags von Lissabon.
Positionen wurden geändert
In manchen Bereichen änderte sich im Lauf der Zeit die Position. So trat London im Jahr 1997 nach dem Regierungswechsel zu New Labour der Arbeitszeitrichtlinie der EU ausdrücklich bei. In den Bereichen Justiz und Inneres kündigten sie 2013 lautstark alle Vereinbarungen, um später stillschweigend den wichtigsten gemeinsamen Aktivitäten wie etwa der Zusammenarbeit bei Europol oder dem europäischen Haftbefehl wieder beizutreten.
Das zeigt, dass für die Briten die EU-Mitgliedschaft stets nur „den Charakter eines Tauschhandels“hatte, wie Simon Tilford vom Centre for European Reform in London formuliert. Das kam auch in Symbolen, besser gesagt in der Abwesenheit von Symbolen, zum Ausdruck: Kein britisches Regierungsgebäude wurde jemals von einer EU-Fahne geschmückt, kein britischer Premier stellte neben den Union Jack das blaue Banner der EU mit den zwölf Sternen, wenn er sich an die Nation wandte. Ebenso wenig wurde im Unterricht das europäische Bewusstsein gefördert.
Wohin geht die Reise?
Es ist daher nicht nur das Fehlen jeder Vorbereitung vor dem Referendum, das dazu führt, dass Großbritannien bisher offensichtlich ahnungslos ist, wohin die Reise gehen soll. Über Europa haben bisher vielleicht ein paar Thinktanks nachgedacht, sicherlich aber nicht die hohe Politik und das breite Volk. So darf es nicht verwundern, dass heute keine Einigkeit über den Zeitrahmen, die Inhalte und die Ziele des Brexit bestehen.
Wählerbefragungen nach der Volksabstimmung am 23. Juni zeigten eine gespaltene Nation. Für den Verbleib in der Europäischen Union stimmten Schottland und Nordirland, gegen den Verbleib stimmten England und Wales. Junge, gut ausgebildete, wohlhabende Städter waren für die EU, während ältere, weniger ausgebildete und ärmere Wähler aus ländlichen Gebieten gegen die EU stimmten. Während sich in Universitätsstädten wie Cambridge bis zu 75 Prozent für den Verbleib aussprachen (siehe Interview), waren in Gemeinden mit raschem Zuwachs an Zuwanderern wie Boston ebenso viele dagegen.
Was die Untersuchungen aber auch zeigten: Oft war die Wahrnehmung wichtiger als die Fakten. Gebiete mit dem höchsten Ausländeranteil wie innerstädtische Bezirke Londons hatten die höchste EU-Zustimmung. Die ältere Generation hatte in den vergangenen zehn Jahren die höchsten Einkommenszuwächse genossen. Dennoch stimmte sie fast mit Zweidrittelmehrheit gegen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Die neue Premierministerin, Theresa May, reagierte sofort auf die ersten Erkenntnisse aus dem Referendum. Bei Amtsantritt beschwor sie die Einheit der Nation – „Unsere so kostbare Union“– ebenso wie die Einheit der Gesellschaft: „Wir wollen eine Regierung für die vielen, nicht die wenigen sein.“Die Formel „Brexit means Brexit“sollte als Zusicherung dienen, dass dem Willen des Volkes stattgegeben wird. Ihre Nützlichkeit ist aber mittlerweile ziemlich aufgebraucht.
Gesucht wird nun dringend ein Inhalt. Die Wirtschaft lässt keinen Zweifel daran, dass sie einen Soft-Brexit wünscht, bei dem das Land im EU-Binnenmarkt bleibt. 45 Prozent der britischen Exporte gehen in die Union, 55 Prozent der Importe kommen aus der EU. Deutsche, französische oder niederländische Investoren besitzen heute Kernbetriebe der britischen Wirtschaft. Jede Unterbrechung oder Störung dieses engmaschigen Beziehungsnetzes würde schweren Schaden verursachen.
Abwanderung von Geschäftsbereichen
Das Verhältnis zum Binnenmarkt ist auch das zentrale Thema für die britische Finanzwirtschaft. Verliert die City of London die Passporting Rights, das heißt das Recht zur Abwicklung von Euro-Transaktionen, wird eine zumindest teilweise Abwanderung von Geschäftsbereichen in EU-Länder als unausweichlich angesehen. Dublin, Frankfurt und auch Paris haben den „roten Teppich schon ausgerollt“, wie der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron während der britischen Referendumskampagne sagte.
Doch wie die Briten drei Monate nach der Entscheidung für den Brexit heute zunehmend entdecken, hat die EU-Mitgliedschaft nicht nur eine wirtschaftliche Komponente. Insbesondere im Bereich der Wissenschafts- und Forschungszusammenarbeit entstanden über Jahrzehnte enge Beziehungen. Mehr als eine Milliarde Pfund an EU- Förderungen floss jedes Jahr ins Land. Nicht nur dieser Wegfall muss erst verkraftet werden. In einem vertraulichen Papier klagten die führenden Universitäten des Landes bereits, dass es „Hinweise gibt, wonach wir von Fördermitteln ausgeschlossen und unsere Forscher von Projekten ausgeladen werden“.
Premierministerin Theresa May legte sich bisher nicht fest, welche Art von Brexit sie will. Es gebe mehrere Modelle (siehe Artikel unten), aber sie strebe danach, „unser eigenes britisches Modell“zu entwickeln, sagte sie zum Auftakt der neuen Sit-
Wir wollen eine Regierung für die vielen, nicht für die wenigen sein. Theresa May Premierministerin
zungsperiode dem Parlament im September: „Dieses Verhältnis wird die Kontrolle der Einwanderung von EU-Bürgern nach Großbritannien und ein passendes Abkommen für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen mit der EU enthalten – im Rahmen einer neuen Beziehung, die wir mit ihnen errichten werden.“
Der Rahmen ist vorgegeben
So vage diese Position auch ist, besteht dennoch kein Zweifel, dass Regierungschefin May damit den Rahmen vorgegeben hat. Klar ist, dass May keinesfalls einen völligen Bruch mit der EU will. Beobachter sprechen von der „Hotel California“-Position, unter Bezugnahme auf den Hit der Eagles, in dem es heißt: „You can check out any time you like, but you can never leave.“Auch Boris Johnson, einer der Hauptwortführer in der Brexit-Kampagne und heute britischer Außenminister, betont regelmäßig: „Wir verlassen die EU, nicht Europa.“
Das sehen seine beiden ebenfalls für den Brexit zuständigen Kollegen, Außenhandelsminister Liam Fox und Brexit-Minister David Davis (siehe Kasten), offensichtlich anders. Während Fox von blühenden Handelsbeziehungen mit Australien und Asien träumt (und sich dabei von der Geografie nicht sonderlich beirren lässt), stellt Davis sogar die Mitgliedschaft im europäischen Binnenmarkt infrage. Die beiden Minister Fox und Davis gelten als Anhänger der „Usain Bolt“Position: Mit einem großen Sprint möglichst rasch über die Ziellinie zu kommen. Doch auch in Großbritannien weiß man, wie das Wettrennen zwischen dem Hasen und dem Igel endet.