Mitglied oder Privilegierter Partner am Bosporus?
EU-Türkei. Seit die Türkei ihren Beitrittsantrag gestellt hat, wird in Europa über Alternativen zur Vollmitgliedschaft nachgedacht. Vor allem in Deutschland war die Skepsis lange Zeit ausgeprägt.
Brüssel. Angesichts des Hickhacks um Flüchtlinge, Menschenrechte, Visumliberalisierung und Nachbarschaftspolitik könnte man meinen, dass die Verhandlungen zwischen der Türkei und Europa über einen Beitritt zur Europäischen Union an Kinderkrankheiten leiden. Dem ist allerdings nicht so. Ankara hat nämlich sein erstes Beitrittsgesuch bereits im Jahr 1959 gestellt – Adressat war damals die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, die Vorläuferin der heutigen EU.
Damals wie heute kreiste die Debatte um die Frage, inwieweit der türkische Beitritt verkraftbar wäre, und zwar sowohl für die Türkei selbst als auch für die Europäer. Für die Türkei wäre der legistische Anpassungsdruck enorm, aus der Perspektive der Europäer würde der türkische EU-Beitritt die Balance innerhalb der Union aus dem Gleichgewicht bringen. Mit derzeit rund 75 Millionen Einwohnern wäre sie schlagartig das zweitgrößte Land der EU, und sie würde zugleich aufgrund ihrer relativen Armut massive finanzielle Unterstützung benötigen – was den derzeitigen Finanzrahmen de facto sprengen würde. Ohne eine tiefgreifende Reform der Arbeitsweise der EU wäre ein Beitritt der Türkei nicht zu stemmen – es sei denn, das Land würde im Lauf der Verhandlungen einen rasanten sozioökonomischen Aufholprozess hinlegen, wonach es derzeit freilich nicht aussieht.
Merkel gegen türkischen Beitritt
Somit verwundert es nicht, dass seit dem Jahr 1999, als die Regierung in Ankara ihr offizielles Beitrittsgesuch nach Brüssel schickte, über Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft nachgedacht bzw. spekuliert wird. Vor allem in Deutschland machten sich die regierenden Christlichsozialen – allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble – nach der Jahrtausendwende für eine sogenannte Privilegierte Partnerschaft stark. Ähnliche Töne schlug einige Jahre später der damalige französische Staatspräsident, Nicolas Sarkozy, an. Im Jahr 2004 formulierte CDU-Chefin Merkel (damals war sie noch nicht im Bundeskanzleramt), was sie sich unter dieser Partnerschaft vorstellt. „Die Türkei hat natürlich auch eine europäische Perspektive. Wir bieten ihr eine Privilegierte Partnerschaft an, angesichts der wirtschaftlichen und vielen staatspolitischen Unterschiede ist noch ein weiter Weg zu gehen“, sagte sie damals – und provozierte damit wütenden Widerspruch – der Vorschlag sei populistisch, diskriminierend und anmaßend, hieß es in Ankara.
Langfristiges Projekt
Seit die EU 2005 die Verhandlungen mit der Türkei offiziell aufgenommen hat, ist die fundamentale Kritik verstummt – und seit die EU auf türkische Unterstützung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise angewiesen ist, gilt das Stichwort Privilegierte Partnerschaft als Tabu. Der Grund dafür ist kein Umdenken auf europäischer Seite, sondern die Erkenntnis, dass die Türkei Jahrzehnte benötigen wird, um die EU-Reife zu erreichen – sofern sie dies nach wie vor anstrebt. Außerdem wurde 2005 vereinbart, dass die EU prüfen wird, ob sie die Aufnahme der Türkei wirtschaftlich und politisch verkraften kann, bevor Ankara grünes Licht erhält. Der Weg zur Mitgliedschaft ist also weit und steinig – auch, weil einige Mitgliedstaaten (Frankreich etwa) ihre Bevölkerungen vor dem Beitritt dazu befragen wollen.
Die sich verschlechternde Menschenrechtslage als Folge des Putschversuchs und der zunehmend autokratisch agierende Staatschef, Recep Tayyip Erdogan,˘ könnten aber der alten Idee der vertieften Partnerschaft neues Leben einhauchen – auch für Ankara könnte ein derartiges Arrangement vorteilhaft sein, weil damit der politische Anpassungsdruck an europäische Usancen entfallen würde. Die ursprünglich von der CDU propagierte Idee sah vereinfach ausgedrückt vor, der Türkei Zugang zum EU-Binnenmarkt zu gewähren – allerdings unter Ausschluss der Personenfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit für türkische Bürger in Europa. Ebenfalls ausklammern wollten die deutschen Konservativen die Struktur- und Agrarfonds der Union. Stattdessen wollte man mit Ankara beim Umweltschutz, der Förderung von Klein- und Mittelbetrieben und der Verteidigungspolitik zusammenarbeiten.
Eine derartige Partnerschaft wäre heute schon allein deswegen unmöglich, weil Staatschef Erdogan˘ die Gewährung der Visumfreiheit für Türken in Europa zur Conditio sine qua non für jegliche Zusammenarbeit erhoben hat. Und durch die Flüchtlingskrise werden Ankaras Drohungen derzeit ernst genommen.