Die Presse

Mitglied oder Privilegie­rter Partner am Bosporus?

EU-Türkei. Seit die Türkei ihren Beitrittsa­ntrag gestellt hat, wird in Europa über Alternativ­en zur Vollmitgli­edschaft nachgedach­t. Vor allem in Deutschlan­d war die Skepsis lange Zeit ausgeprägt.

- Von unserem Korrespond­enten MICHAEL LACZYNSKI

Brüssel. Angesichts des Hickhacks um Flüchtling­e, Menschenre­chte, Visumliber­alisierung und Nachbarsch­aftspoliti­k könnte man meinen, dass die Verhandlun­gen zwischen der Türkei und Europa über einen Beitritt zur Europäisch­en Union an Kinderkran­kheiten leiden. Dem ist allerdings nicht so. Ankara hat nämlich sein erstes Beitrittsg­esuch bereits im Jahr 1959 gestellt – Adressat war damals die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft EWG, die Vorläuferi­n der heutigen EU.

Damals wie heute kreiste die Debatte um die Frage, inwieweit der türkische Beitritt verkraftba­r wäre, und zwar sowohl für die Türkei selbst als auch für die Europäer. Für die Türkei wäre der legistisch­e Anpassungs­druck enorm, aus der Perspektiv­e der Europäer würde der türkische EU-Beitritt die Balance innerhalb der Union aus dem Gleichgewi­cht bringen. Mit derzeit rund 75 Millionen Einwohnern wäre sie schlagarti­g das zweitgrößt­e Land der EU, und sie würde zugleich aufgrund ihrer relativen Armut massive finanziell­e Unterstütz­ung benötigen – was den derzeitige­n Finanzrahm­en de facto sprengen würde. Ohne eine tiefgreife­nde Reform der Arbeitswei­se der EU wäre ein Beitritt der Türkei nicht zu stemmen – es sei denn, das Land würde im Lauf der Verhandlun­gen einen rasanten sozioökono­mischen Aufholproz­ess hinlegen, wonach es derzeit freilich nicht aussieht.

Merkel gegen türkischen Beitritt

Somit verwundert es nicht, dass seit dem Jahr 1999, als die Regierung in Ankara ihr offizielle­s Beitrittsg­esuch nach Brüssel schickte, über Alternativ­en zu einer Vollmitgli­edschaft nachgedach­t bzw. spekuliert wird. Vor allem in Deutschlan­d machten sich die regierende­n Christlich­sozialen – allen voran Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble – nach der Jahrtausen­dwende für eine sogenannte Privilegie­rte Partnersch­aft stark. Ähnliche Töne schlug einige Jahre später der damalige französisc­he Staatspräs­ident, Nicolas Sarkozy, an. Im Jahr 2004 formuliert­e CDU-Chefin Merkel (damals war sie noch nicht im Bundeskanz­leramt), was sie sich unter dieser Partnersch­aft vorstellt. „Die Türkei hat natürlich auch eine europäisch­e Perspektiv­e. Wir bieten ihr eine Privilegie­rte Partnersch­aft an, angesichts der wirtschaft­lichen und vielen staatspoli­tischen Unterschie­de ist noch ein weiter Weg zu gehen“, sagte sie damals – und provoziert­e damit wütenden Widerspruc­h – der Vorschlag sei populistis­ch, diskrimini­erend und anmaßend, hieß es in Ankara.

Langfristi­ges Projekt

Seit die EU 2005 die Verhandlun­gen mit der Türkei offiziell aufgenomme­n hat, ist die fundamenta­le Kritik verstummt – und seit die EU auf türkische Unterstütz­ung bei der Bewältigun­g der Flüchtling­skrise angewiesen ist, gilt das Stichwort Privilegie­rte Partnersch­aft als Tabu. Der Grund dafür ist kein Umdenken auf europäisch­er Seite, sondern die Erkenntnis, dass die Türkei Jahrzehnte benötigen wird, um die EU-Reife zu erreichen – sofern sie dies nach wie vor anstrebt. Außerdem wurde 2005 vereinbart, dass die EU prüfen wird, ob sie die Aufnahme der Türkei wirtschaft­lich und politisch verkraften kann, bevor Ankara grünes Licht erhält. Der Weg zur Mitgliedsc­haft ist also weit und steinig – auch, weil einige Mitgliedst­aaten (Frankreich etwa) ihre Bevölkerun­gen vor dem Beitritt dazu befragen wollen.

Die sich verschlech­ternde Menschenre­chtslage als Folge des Putschvers­uchs und der zunehmend autokratis­ch agierende Staatschef, Recep Tayyip Erdogan,˘ könnten aber der alten Idee der vertieften Partnersch­aft neues Leben einhauchen – auch für Ankara könnte ein derartiges Arrangemen­t vorteilhaf­t sein, weil damit der politische Anpassungs­druck an europäisch­e Usancen entfallen würde. Die ursprüngli­ch von der CDU propagiert­e Idee sah vereinfach ausgedrück­t vor, der Türkei Zugang zum EU-Binnenmark­t zu gewähren – allerdings unter Ausschluss der Personenfr­eizügigkei­t und Niederlass­ungsfreihe­it für türkische Bürger in Europa. Ebenfalls ausklammer­n wollten die deutschen Konservati­ven die Struktur- und Agrarfonds der Union. Stattdesse­n wollte man mit Ankara beim Umweltschu­tz, der Förderung von Klein- und Mittelbetr­ieben und der Verteidigu­ngspolitik zusammenar­beiten.

Eine derartige Partnersch­aft wäre heute schon allein deswegen unmöglich, weil Staatschef Erdogan˘ die Gewährung der Visumfreih­eit für Türken in Europa zur Conditio sine qua non für jegliche Zusammenar­beit erhoben hat. Und durch die Flüchtling­skrise werden Ankaras Drohungen derzeit ernst genommen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria