Der ideale Zeitungsleser
Literatur. Journalist Michael Angele über die gedruckte Zeitung, fanatische Sammler und berühmte Zeitungssüchtige, wie Thomas Bernhard. Nur sind das fast ausschließlich Männer.
Die Vorderseite des schmalen Buchs sieht aus wie eine Miniaturzeitung – und wenn der Buchdeckel gelüftet wird, kommt dahinter ein ZeitungsspaltenLayout zum Vorschein. Der Rezensent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“hat sich sogar die Mühe gemacht auszurechnen, wie viel Platz der Essay von Journalist Michael Angele in einer Zeitung einnehmen würde. Es wären fünf ganze Seiten.
Michael Angele, im Hauptberuf Vizechefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“, ist ein Zeitungsliebhaber. Grabreden auf die gedruckte Zeitung gab es zuletzt viele, daher ist es zunächst einmal äußerst angenehm, wenn sich einer hinsetzt und der Zeitung und all ihren Facetten huldigt. Angele erzählt von seiner eigenen Vorliebe für Gedrucktes, allen voran für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, und berichtet von bekannten und gar nicht bekannten Menschen, also etwa Freunden und Bekannten von ihm, die zeitungssüchtig sind.
Bernhard fuhr 350 km für die „NZZ“
Wie weit Thomas Bernhard seine Zeitungssucht getrieben hat, kann man in dem autobiografischen Text „Wittgensteins Neffe“aus dem Jahr 1982 lesen. Als Bernhard während der Salzburger Festspiele 1968 dringend einen Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“lesen wollte, nämlich die Kritik der Aufführung von Mozarts „Zaide“, fuhr er von seinem Wohnort Ohlsdorf achtzig Kilometer nach Salzburg, von dort weiter nach Bad Reichenhall, dann nach Bad Hall und nach Steyer. Schließlich war er 350 Kilometer gefahren, um die gewünschte Zeitung in Händen zu halten. Heute hätte es Bernhard entschieden leichter, er könnte die Digitalausgabe der Zeitung auf verschiedene Art und Weise be- ziehen. Doch die wahren Zeitungssüchtigen greifen auch heute lieber nach dem gedruckten Produkt aus Papier. Für Angele jedenfalls war Bernhard „der ideale Zeitungsleser“, weil er sie nicht nur las, um sich zu informieren, sondern „um sich zu wundern, sich anzuregen, sich aufzuregen“. Wenn ihm danach war, schrieb er dann einen Leserbrief.
Thomas Bernhard las sieben Zeitungen täglich, Peymann lange Zeit zehn bis fünfzehn. Er habe seine Dosis allerdings reduziert, wie er Angele erzählt. Das auch, weil es ihm nicht gefalle, dass die Zeitungen heute vor allem allgemeine Feuilletonthemen bringen und „die Kulturberichterstattung praktisch auf null gefahren wird“. Das sei das Einzige, was man dem „leider verstorbenen Frank Schirrmacher (Herausgeber der ,FAZ‘) vorwerfen kann“. Angele schreibt über Zeitungssammler und ihren Irrglauben, all das Interessante, das sie sich herausreißen oder aufbewahren, wirklich einmal zu lesen. Über das Leseverhalten im Urlaub und über die Hassliebe zwischen den Zeitungsmachern und ihren Lesern.
Viele Menschen lässt er zu Wort kommen. Interessanterweise sind es fast ausschließlich Männer, über deren Zeitungssucht berichtet wird: neben Bernhard und Peymann auch Peter Handke (der erklärte Zeitungshasser) und Harald Schmidt, Schauspieler Franz Xaver Kroetz und der Literaturwissenschaftler Erhard Schütz, ein passionierter Lokalzeitungsleser. Nach der Lektüre stellt sich also die Frage: Lesen Frauen keine Zeitung, und wenn doch, wo verstecken sie sich? Und wenn es sie doch gibt, die weiblichen Zeitungssüchtigen, wovon wir ausgehen, wieso wurden sie nicht befragt? „Der letzte Zeitungsleser“, Galiani Berlin.