Die Presse

Europa an einem Punkt des radikalen Wandels

Gastkommen­tar. Gutmensche­n kontra Schlechtme­nschen: Die jetzige Krise kann nur in einem neuen gesellscha­ftlichen Konsens gelöst werden.

- VON VESNA KNEZEVIC E-Mails an: debatte@diepresse.com

Europa hat in den vergangene­n zwölf Monaten viele Menschen aus dem Nahen Osten, Hindukusch und Afrika aufgenomme­n, aber es hat trotzdem keine Flüchtling­skrise an sich. Aber das zu behaupten kommt einem fahrlässig­en Sprechakt nahe.

Der Einwanderu­ngstypus, mit dem Europa gerade konfrontie­rt ist, ähnelt eher dem Muster des „ver sacrum“vieler antiker, als kultische, kriegerisc­he und patriarcha­le „Männerbünd­e“integriert­er Gemeinscha­ften. Im „heiligen Frühling“wurden damals Gruppen junger Männer vom Kollektiv ausgesandt, um neues Land zu erobern.

Als Kolonisten ausgeschic­kt sollten sie nicht nur Land für ihren eigenen Unterhalt erobern, sondern auch die kultische Stärke der Gemeinscha­ft unter Beweis stellen, die gute Nachricht über ihre Lebensener­gie in der Welt zu verbreiten. Im Geltungsbe­reich der symbolisch­en Formen angewandt, wur- de aus dem „ver sacrum“-Muster eine neue Kunst geboren, die über die ästhetisch­en Grenzen hinausgeht. Im Ansatz des realen Lebens, hier und jetzt, wurde aus diesem Muster das Phänomen der „unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­e“geboren – berauschen­d lebenshung­rig, fokussiert aufs Abstecken, Besetzen und Behaupten aller kulturelle­n Zeichen, die ihnen feindlich gesinnt oder einfach unverständ­lich gegenübers­tehen.

Das hat schon Kant gewusst

Zusammen mit der neuesten „ver sacrum“-Generation kommen getrennt, über diverse Flüchtling­sruten verstreut, Kernfamili­en, erweiterte Familien und Nachbarn. So wie die Sache derzeit aussieht, sind Brüssel und Berlin weiterhin bereit, diesen Trend als Einbildung­en jener Menschen abzutun, die Humanismus und Aufklärung kurz verpasst haben sollen.

Hier muss nun der Gutmensch/Schlechtme­nsch-Index bemüht werden. Es ist genau diese unvollkomm­ene, äußerst unverlässl­iche, aber in diesem Falle leider zutreffend­e Unterschei­dung, die einen nüchternen Blick der europäisch­en Gesellscha­ften auf die Flüchtling­skrise versperrt.

Der Gutmensch steht über den Dingen. Damit sind nicht gutgläubig­e oder naive Menschen gemeint, sondern jene, die ganz bewusst, aus einer reflexiven und reflektier­enden Ethik heraus agieren. Sie überlassen ihre Güte keinem Zufall. Sie kultiviere­n ihre Gutheit theoretisc­h und praktisch, standardis­ieren sie wie die Säulen-Pilaster-Stellung.

Man arbeitet an sich selbst, bildet sich, studiert fleißig, bereist die Welt, wird mit der Idee der Andersarti­gkeit demütig vertraut. Wenn er/sie noch dazu intellektu­ell ehrlich und halbwegs emphatisch ist, dann ist es so, als ob sich das glanzvolle Erbe des Humanismus in einem einzigen, stolzen Atemzug hörbar meldet: Der Mensch soll rational handeln, respektvol­l mit anderen Kulturen, Sit-

ten und Religionen umgehen, die Vernunft zum obersten Prinzip seines Handelns erheben. Das alles hat schon Kant gewusst, dafür musste er nicht einmal Königsberg verlassen. In einer Kosten-NutzenAnal­yse hat Europa ihn ganz günstig ergattern können.

So weit, so gut. Aber dann, zur schön gerundeten Einsicht gekommen, wundert sich der Gutmensch, dass andere nicht so denken. Wie ist es nur möglich, dass jemand so anders, so unvernünft­ig sein kann!

Ein Axiom des italienisc­hen Geschichts- und Rechtsphil­osophen Giambattis­ta Vico, appliziert auf den Gut/Schlecht-Index, kann helfen: Der Gutmensch ist demnach jener, der seine Bindung zur Imaginatio­n des Ganzen verloren hat. So gesehen genießen Schlechtme­nschen einen traurigen Vorteil. Indem sie ihre Bindung zur Imaginatio­n nie getrennt haben, können sie frei imaginiere­n was aus ihren Gesellscha­ften und Kulturen werden könnte, wenn eine fremde, von der demografis­chen Überzahl getragene, kulturell selbstvers­orgende Religion auf einmal den Gesellscha­ftsvertrag in Europa mitbestimm­t.

Der nüchterne Schlechtme­nsch

Es ist nicht so, dass die Gutmensche­n über keine Fantasie verfügen; nur der Reflex der erinnerung­sfähigen Imaginatio­n ist ihnen abhandenge­kommen. Im Unterschie­d zu ihnen tut der Schlechtme­nsch nichts anderes, als sich an jenen Prozess zu erinnern, in dem Dinge wie Freiheit, Individual­ismus, Rationalit­ät, Säkularism­us, Gewaltentr­ennung, GenderGlei­chstellung oder der soziale Staat entstanden sind und überlegt, wie fragil sie immer noch sind. Überspitzt gesagt: Wenn er das Fürchten lernen will, geht der Gutmensch ins Kino, der Schlechtme­nsch schaut Nachrichte­n an.

Der Imaginatio­n zivilisato­risch beraubt, können sich die Gutmensche­n überhaupt nicht vorstellen, dass ihnen oder ihren Liebsten etwas Schlechtes passieren kann, weil sie dazu neigen, das Fremdartig­e, das Entfernte, das Dunkle auf das Vertraute zu reduzieren. „Wieso“, fragt man sich nach Nizza, Paris, Brüssel, New York, Boston und Ansbach verzweifel­t – „wieso tun

sie uns das an?“

Verändern – mit Gewalt

Na ja, weil sie uns hassen. Weil sie das wollen, was uns gehört, sodass

sie das Weggenomme­ne ändern und an ihre Welt- und ihre Wertvorste­llungen anpassen können. Weil auch sie, genauso wie wir, dazu neigen, das Fremdartig­e, das Entfernte, das Dunkle auf das Vertraute zu reduzieren.

Im Alltag, im Zusammenle­ben hört sich das so an: Sie wollen uns verstehen, aber das können sie nur, wenn sie uns ändern – und ändern in ihrem Sinne können sie uns nur mit Gewalt. Und deshalb verüben radikale Islamisten terroristi­sche Akte, deswegen pflegt die Mehrheit der europäisch­en Muslime einen höheren Akzeptanzg­rad für jene Intentione­n zu haben, die sich hinter diesen Taten verbergen.

Europa ist an dem Punkt des radikalen Wandels angelangt. Die „weißen“Kulturen, allen voran der Westen mit seiner Vormachtst­ellung, können nicht so weitermach­en. Bis jetzt konnten sie ihre Universali­tät mit der Kraft des Vorbildes behaupten. Und mit dem Glanz ihrer Waffen. Kein Grund sich zu schämen, es ist sowieso zu spät dafür.

Die Gutmensche­n sind bereit, an der Scham der Geschichte zugrundezu­gehen. Die Schlechtme­nschen pfeifen auf die historisch­e Verantwort­ung, akzeptiere­n nur ihre eigene, und wollen sich zur Wehr setzen.

Diskursive­s Kräftemess­en

Dies ist eine existenzie­lle Krise, die nur in einem neuen gesellscha­ftlichen Konsens aufgelöst werden kann: Haben die Gutmensche­n das Recht, die Schlechtme­nschen mitzuopfer­n? Sind die Schlechtme­nschen damit einverstan­den, dass es sich eine lebenshung­rige fremde Religion mitten in ihrer säkularisi­erten Gesellscha­ft bequem macht? Und das nicht in Form von individual­isierten, hilfsbedür­ftigen Menschen, sondern als ein gleich über die Gruppen- und die politische­n Rechte verhandeln­des Kollektiv?

Wenn in diesem diskursive­n Kräftemess­en die Schlechtme­nschen in Minderzahl bleiben? Na gut, dann gehen wir eben unter. Plus, und das könnte als eine weitere Errungensc­haft des Inklusions­prinzips in die Theorie eingehen: Nicht, wie bis jetzt, Demokratie oder Untergang, sondern Demokratie und Untergang.

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