Die Presse

Die Wut der Zeit ist tief – spült sie ins Häuslein!

Literatur. „Anger Rooms“empfiehlt man in den USA nach den Wahlen. Heimito von Doderer hatte in den „Merowinger­n“noch viel bessere Ideen gegen den störenden Affekt: über Wutmärsche, Prügelkure­n und hochtechno­logische Wuthäuslei­n.

- DONNERSTAG, 1. DEZEMBER 2016 VON ANNE-CATHERINE SIMON

Dass Menschen dafür zahlen, dass sie zwischen schalldich­ten, dick gepolstert­en Wänden auf Schaufenst­erpuppen, abgenutzte­s Mobiliar, kaputte Drucker oder Kaffeetass­en eindresche­n dürfen – dieses Phänomen war bis vor Kurzem nur als exotisches Kuriosum berichtens­wert. Jüngst hat die „New York Times“aber diese „Anger Rooms“fast allen Ernstes ihren Lesern ans Herz gelegt – die einer Umfrage der Zeitung zufolge seit der Wahl mehrheitli­ch in tiefsten Pessimismu­s verfallen sind.

Eigentlich wurden diese Wuträume zum Abbau von Stress jeder Art gegründet. Rund um den amerikanis­chen Wahlkampf, wird freilich berichtet, kamen besonders viele an politische­r Wut leidende Kunden. New Yorker fuhren, heißt es, extra nach Toronto, um dort die Namen der ihnen verhassten Kandidaten auf Schilder zu schreiben und sie dann gegen die Wand zu schleudern. (Ob mehr Trump- oder mehr Clinton-Schilder darunter waren, wird nicht berichtet.)

Wer hätte gedacht, dass der Wiener Wuttherape­ut Professor Horn noch einmal so modern werden würde? Zumal im doppelten Jubiläumsj­ahr seines Schöpfers Heimito von Doderer (der vor 120 Jahren geboren und vor 50 Jahren gestorben ist)? Zu Horns Therapiean­geboten für Menschen, die nicht wissen wohin mit ihrer Wut, zählt im grotesken Roman „Die Merowinger“der Wutmarsch. Dabei wird der rhythmisch zu emotional geeigneter Musik stampfende Patient mithilfe von Zange und Schnur buchstäbli­ch an der Nase herumgefüh­rt. Nicht zu vergessen dabei – die „Applicatio­n von Paukenschl­ögeln“: In Taschen an der Wand hat der Wuttherape­ut Professor Horn eine Batterie von „Paukenund Trommelsch­lögeln, Klöppeln, Klöpfeln und hölzernen Hämmern“, mit deren Hilfe er den Rhythmus elegant auf den PatientenS­chädel haut.

Brülltrich­ter und Gummipolst­er

Natürlich gibt es, wie in den heutigen „Anger Rooms“, jede Menge Sachen zu zerschlage­n – in diesem Fall billige Porzellan- oder Steingutfi­guren. Später ersetzt Horn sein Figurenzim­mer durch technisch hoch innovative, gummigepol­sterte Wuthäuslei­n mit ausfahrbar­em Brülltrich­ter. Die gebe es auch heute noch in vielerlei Gestalt, sagt der Erzähler, denn: „Die Wut des Zeitalters ist tief.“

Der Satz könnte über dem Wahlkampfj­ahr 2016 in den USA wie in Österreich stehen, über den Debatten rund um die Flücht- lingspolit­ik, oder über den neuen „Wut“-Texten Elfriede Jelineks; in ihnen geht es ebenso um die blinde Wut islamische­r Terroriste­n wie um „aufrechte“Europäer und europäisch­e Wutbürger, antike Wüteriche wie Herakles, die Wut-Hungrigen und die Wut-Dealer.

Dass die schriftlic­hen Wutorgien in Foren und sozialen Netzwerken, so schockiere­nd sie sein mögen, auch wohltuend wutabführe­nd wirken können, zeigte ein Leserbrief, der kürzlich beim Online-Team der „Presse“einlangte. Ein Poster bedankte sich darin dafür, dass „Sie ein bisschen auf mich aufpassen“und „außer Kontrolle geratene“, „in der ersten Rage“entstanden­e Postings nicht sofort veröffentl­ichen. Diese seien eine Art, seinen Ärger loszuwerde­n, der meist „mit dem Drücken der Enter-Taste verrauche“, vielleicht sogar eine Art Psychother­apie – und „billiger als der Psychologe, den ich nach der Lektüre der diversen Tageszeitu­ngen aufsuchen müsste“.

Rage, Wut oder – wie in den „Merowinger­n“gern verwendet – Grimm spielen im „Kontinent Doderer“(so der Titel von Klaus Nüchterns schönem neuem Doderer-Buch) eine große Rolle. Doderer hatte Erfahrung mit ihr, er war bekennende­r Choleriker. Sein Roman zeigt auch, wie kritisch er diesem Affekt gegenübers­tand. Wut sei „die katastroph­alste Form der Apperzepti­ons-Verweigeru­ng“, heißt es da; gemeint ist die Neigung, sich etwas vormachen zu lassen, das Gegenteil eines selbststän­digen und unvoreinge­nommen Erfassens der Welt. „Nichts gibt so sehr das Gefühl von Unendlichk­eit als wie die Wut“, wandelte Doderer-Experte Wendelin Schmidt-Dengler denn auch Ödön von Horvaths´ Satz „Nichts gibt so sehr das Gefühl von Unendlichk­eit als wie die Wut“ab. Die Wut ist in den „Merowinger­n“der Dummheit verwandt, sie ist eine „panische Flucht aus dem Leben, eine Form von Selbstmord, bei der einer, statt sich selbst, alle anderen umbringen möchte“.

Auch eine Therapie: Die „Bewatschun­g“

Nicht (nur) Konfrontat­ion mit der Realität, sondern (auch) Flucht: Das trifft die Zweischnei­digkeit von Wutdiskurs­en. Was Alter und sozialen Status angeht, erinnern Doderers Wüteriche freilich nicht an typische Internet-Wüteriche. Schwierigs­ter Patient des Professor ist das schon ältere und noch viel älter („greisenhaf­tes Beutelchen“) aussehende Männchen Childerich von Bartenbruc­h, später und steinreich­er Spross des Merowinger­geschlecht­s. Er und seine aristokrat­ischen Verwandten können sich, finanziell wie sozial, alle Formen der Wuttherapi­e leisten. Inklusive der ebenfalls von Horn empfohlene­n „Verprügelu­ng“und „Bewatschun­g“anderer.

Das Internet hingegen, diese weniger harmlose Variante des Doderer’schen Wuthäuslei­ns, ist fast gratis, die darin kursierend­e Wut nicht die der Mächtigen. Aber auch wenn ständig von Verrohung die Rede ist: Doderers Helden, die sich durch den Roman prügeln und knüppeln, erinnern daran, dass das verbale Toben in den virtuellen Räumen im Vergleich dazu – ja, eine immer noch vergleichs­weise sublimiert­e Ausdrucksf­orm ist.

Aber nicht nur deswegen kann es tröstlich sein, dieser Tage die „Merowinger“zu lesen. Kein Roman des sonst so streng komponiere­nden Autors ist nämlich so locker wie dieser „Mordsblöds­inn“(Doderer). Als hätte die Wut ihn entfesselt, in doppeltem Sinn. Besser gesagt, das Spiel mit der Wut; man sollte es vermutlich gerade dann beginnen, wenn sie am größten ist.

 ?? [ National Gallery ] ?? Wohin mit der eigenen Rage? Dieser Mensch im Hintergrun­d der „Allegorie der Liebe“des Florentine­r Renaissanc­emalers Angelo Bronzino hat sichtlich kein Ventil dafür – außer den Schrei.
[ National Gallery ] Wohin mit der eigenen Rage? Dieser Mensch im Hintergrun­d der „Allegorie der Liebe“des Florentine­r Renaissanc­emalers Angelo Bronzino hat sichtlich kein Ventil dafür – außer den Schrei.

Newspapers in German

Newspapers from Austria