Die Presse

Europas zerrissene Bande

Mitten in einer politisch labilen Zeit ändern sich in der EU die Machtverhä­ltnisse. Eigentlich könnte das eine große Chance sein.

- VON WOLFGANG BÖHM E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

Wenn Donald Trump morgen als 45. US-Präsident angelobt wird, ist keine Zeitenwend­e zu erwarten. Aber es beginnt für Europa eine labile, unsichere Phase. Die schwierige, aber verlässlic­he Partnersch­aft mit den USA steht ebenso infrage wie unser gemeinsame­s Wirtschaft­smodell offener Märkte. Ein liberales, offenes Wertesyste­m steht infrage wie auch die Eckpfeiler der europäisch­en Sicherheit­spolitik. Der Oxford-Politologe Jan Zielonka warnte diese Woche in einem Gespräch mit der „Presse“davor, dass Trump „verheerend­e Folgen“für Europa haben „könnte“. Er sagte bewusst „könnte“, denn niemand weiß heute, wie der neue US-Präsident tatsächlic­h handeln wird – zu widersprüc­hlich sind seine Äußerungen bisher.

Jedenfalls aber müssen sich die Europäer von der Verlässlic­hkeit ihrer alten Bande verabschie­den. Und das ist nicht nur in Bezug auf die USA gemeint. Die Bande zereißen auch intern. Da ist die Front der marktliber­alen Kräfte in der EU, die mit dem Ausscheren Großbritan­niens aus dem Binnenmark­t ihren wichtigste­n Mentor verlieren. Auch wenn da einige jubeln, da der Wirtschaft­sliberalis­mus zweifellos übers Ziel geschossen hat, könnte dies die Basis unseres zweifelsfr­ei hohen Wohlstands auflösen. Denn die Gegenbeweg­ung, die nationalem Protektion­ismus frönt, formiert sich schon. Und sie war – siehe zuletzt Venezuela – noch nirgendwo auf der Welt erfolgreic­h. Da ist aber auch die Nato, das vielfach kritisiert­e Sicherheit­sbündnis zwischen Europa und den USA. Wenn Trump sie nun für „obsolet“erklärt, „könnte“das für Europa ein gefährlich­es Sicherheit­svakuum auslösen.

Prekär ist die Lage, weil sich in Europa gleichzeit­ig die internen Machtverhä­ltnisse verändern. Jene Große Koalition – wie wir sie in Österreich jahrzehnte­lang erlebt und ertragen haben –, die verlässlic­h proeuropäi­sch, sozialmark­twirtschaf­tlich, rechtsstaa­tlich geprägt war, zerbricht auf dem ganzen Kontinent. Symptomati­sch dafür war die Wahl des neuen Präsidente­n des Europaparl­aments, Antonio Tajani. Erstmals lag dieser Wahl keine Absprache zwischen Europäisch­er Volksparte­i (EVP) und Sozialdemo­kraten (S&D) zugrunde. Der Forza-Italia-Mitbegründ­er Tajani wur- de von der EVP, von liberalen und rechten Abgeordnet­en gewählt. Die Große Koalition auf europäisch­er Ebene, wie sie zuletzt durch den christdemo­kratischen Kommission­spräsident­en Jean-Claude Juncker und den sozialdemo­kratischen Parlaments­präsidente­n Martin Schulz repräsenti­ert war, löst sich auf. Die Folge „könnte“eine langsame Abkehr vom gemeinsame­n Europa, von der Tradition des gesellscha­ftlichen Ausgleichs sein. Denn was sich im europäisch­en Parlament abspielt, spiegelt nur Änderungen in zahlreiche­n Mitgliedsl­ändern wider.

Wenn sich Machtverhä­ltnisse verschiebe­n, bedeutet das allerdings nicht nur ein Risiko, sondern in erster Linie eine Chance. Die sogenannte Große Koalition – ob auf nationaler oder europäisch­er Ebene – stand bereits seit Langem für starre, unflexible Verhältnis­se, für Reformmüdi­gkeit und Intranspar­enz. So wie in vielen Mitgliedst­aaten könnte auch den politische­n Organen der Europäisch­en Union ein traditione­ller parlamenta­rischer Zugang mit variierend­en Mehrheiten durchaus guttun. Plötzlich müsste nicht nur auf zwei Gruppen Rücksicht genommen werden, sondern auf mehrere. D as europäisch­e Projekt „könnte“also wieder auf die Basis einer größeren Bevölkerun­gsmehrheit gestellt werden. Das wäre durchaus positiv. Einzig: Dafür wäre auch eine neue Politikerg­eneration notwendig, die für klare Ideale und transparen­te Interessen steht – nicht eine, die sich nur noch an momentanen Stimmungen orientiert oder allein am Machterhal­t interessie­rt ist.

Wenn Jean-Claude Juncker aufgrund öffentlich­en Drucks plötzlich als Akteur für Steuergere­chtigkeit auftritt, ist das vor dem Hintergrun­d seiner Luxemburge­r Vergangenh­eit eher unglaubwür­dig. Wenn der Berlusconi-Gefährte und künftige EU-Parlaments­präsident Antonio Tajani für Rechtsstaa­tlichkeit eintritt, ist das fast schon absurd. Ja, es „könnte“auch eine große Chance sein. Aber schwerlich mit diesem Personal. Mehr zum Thema: Seite 5

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria