Die Presse

Die Zeichen stehen auf Polarisier­ung

Europaparl­ament. Der neu gewählte Präsident, der Italiener Antonio Tajani, will als Manager im Hintergrun­d agieren – und steht damit im Gegensatz zu seinem Vorgänger Martin Schulz.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Straßburg. „Wir brauchen einen Präsidente­n, keinen Premiermin­ister“– bereits vor der erfolgreic­h geschlagen­en Wahl machte der neue Präsident des Europaparl­aments, Antonio Tajani, klar, dass er seine Rolle anders anlegen will als sein Vorgänger Martin Schulz: Der italienisc­he Christdemo­krat will als Manager des Hohen Hauses im Hintergrun­d bleiben und kein eigenes politische­s Programm verfolgen – „denn mein Programm ist das des EU-Parlaments“.

Die Zeiten, in denen der Parlaments­präsident mit eigenen Ideen auf die europapoli­tische Bühne drängte, sind mit der Wahl Tajanis definitiv vorbei. Und das liegt auch an den Unterschie­den zwischen ihm und seinem Vorgänger: Während der deutsche Sozialdemo­krat stets ein Kämpfer war, der im Laufe seines Berufslebe­ns den Alkoholism­us besiegt und den Sprung vom Buchhändle­r zum politische­n Erstligist­en geschafft hatte, blieb Tajani lange Zeit in der zweiten Reihe – zunächst als Journalist im Medienimpe­rium von Silvio Berlusconi, später als Berlusconi­s Pressespre­cher und Europaabge­ordneter der Berlusconi-Partei Forza Italia. Erst als Italiens Vertreter in der EUKommissi­on trat Tajani erstmals ins Rampenlich­t.

Besonders große Fußstapfen

An der Spitze des Europaparl­aments tritt er nun in besonders große Fußstapfen – die er nach eigenen Worten gar nicht füllen will. Dass die Rückkehr von Schulz in die deutsche Innenpolit­ik wie das Ende einer Ära anmutet, hat aber auch damit zu tun, dass der politische Wind heute aus einer anderen Richtung weht. Die multiplen Krisen, mit denen sich die EU konfrontie­rt sieht – die Stichwörte­r dazu lauten Flüchtling­e, Brexit, Donald Trump –, haben zu einer Aufwertung des Rats, des Gremiums der EU-Mitgliedst­aaten, auf Kosten des Abgeordnet­enhauses geführt. Ein eindeutige­s Symptom für diese Entwicklun­g war die letztjähri­ge Entscheidu­ng der Brüsseler Behörde, die EU-Mitglieder direkt in die Ratifizier­ung von Freihandel­sabkommen einzubinde­n, anstatt die Verträge auf rein europäisch­er Ebene zu fixieren.

Dass die nationalen Regierunge­n bei den bevorstehe­nden EUAustritt­sverhandlu­ngen mit Großbritan­nien trotz des Mitsprache­rechts des Europaparl­aments das letzte Wort haben werden, ist auch relativ unbestritt­en. Und was die politische Gewichtung an der Spitze der europäisch­en Institutio­nen anbelangt, werden sich die Staatsund Regierungs­chefs aller Voraussich­t nach auch nicht ins Handwerk pfuschen lassen: Die Spekulatio­nen darüber, dass der christdemo­kratische Ratspräsid­ent Donald Tusk im Frühjahr seinen Posten einem Sozialdemo­kraten überlassen muss, nur weil jetzt ein anderer Christdemo­krat dem Eu- ropaparlam­ent vorsteht, sind zuletzt verstummt.

Mit Tajanis Ankündigun­g, ein Präsident im Hintergrun­d sein zu wollen, rücken nun die Chefs der Parlaments­fraktionen als politische „Macher“in den Vordergrun­d. Stabile sozialdemo­kratisch-christlich­soziale Mehrheiten werden sich künftig nicht so leicht organisier­en lassen – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Manfred Weber (CSU), der Fraktionsv­orsitzende der Europäisch­en Volksparte­i (EVP), bereits von einer „bürgerlich­en Mehrheit“spricht, bestehend aus der EVP, der liberalen ALDEFrakti­on und der europakrit­ischen Gruppe der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer (ECR), die von den britischen Tories angeführt wird und der unter anderem die in Warschau regierende­n Nationalpo­pulisten angehören.

Gemeinsam verfügen die drei Gruppierun­gen über 359 von 751 Mandaten. Um von einer Mehrheit sprechen zu können, fehlen also 17 Stimmen – und selbst diese 359 Voten sind nicht garantiert, denn wie Weber selbst eingestand­en hat, verläuft zwischen EVP/ALDE und ECR eine tiefe Kluft, was die Zukunft der EU anbelangt: Volksparte­i und Liberale wollen sie ausbauen, die Tories am liebsten abwickeln.

Neuer Verlauf der Fronten

Im Straßburge­r Plenum deuten die Zeichen also auf Polarisier­ung – und auch das ist ein Symptom der Zeit, denn in vielen Mitgliedst­aaten der Union wird die politische Mitte von Anti-Establishm­ent-Parteien gerade sturmreif geschossen. Bis dato galt das Europaparl­ament als in Stein gemeißelte­s Symbol einer auf Konsens bedachten Politik der Mitte. Dass die Fronten nun anders verlaufen, muss nach Jahren einer informelle­n „Großen Koalition“keine schlechte Sache sein. Doch die Europapoli­tik wird damit ein Stück unberechen­barer.

 ?? [ APA/AFP/Florin ] ?? Im vierten Wahlgang wurde Antonio Tajani am späten Dienstagab­end zum neuen Präsidente­n des EU-Parlaments gewählt.
[ APA/AFP/Florin ] Im vierten Wahlgang wurde Antonio Tajani am späten Dienstagab­end zum neuen Präsidente­n des EU-Parlaments gewählt.

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