Die Presse

Sonja Wehselys schweres Erbe

müssen in Wien meist so lange auf Strahlenbe­handlungen warten, bis mit Gesundheit­sschäden zu rechnen ist.

- VON MARTIN STUHLPFARR­ER

Wien. Gesundheit­sstadträti­n Sonja Wehsely hat mit ihrem Abschied aus der Stadtregie­rung Großbauste­llen im Wiener Gesundheit­ssystem hinterlass­en. Fünf Tage nach ihrem angekündig­ten Rücktritt (sie wechselt zu Siemens Deutschlan­d) bekommen die Probleme im Wiener Gesundheit­ssystem eine völlig neue Dimension: Ein Großteil der Krebspatie­nten, die auf eine Strahlenth­erapie angewiesen sind, werden wegen der langen Wartezeite­n auf einen Termin erst dann behandelt, wenn schwere gesundheit­liche Schäden (Ausbreitun­g der Krebswuche­rung, Metastasen­bildung) nicht mehr ausgeschlo­ssen werden können – wegen gröbsten Missmanage­ments im Gesundheit­sressort: Es stehen zu wenig Geräte zur Verfügung.

Obwohl diese längst im Einsatz sein sollten, um die lang zuvor absehbaren Kapazitäts­probleme überhaupt nicht aufkommen zu lassen. Auf diesen Nenner kann der Prüfberich­t des Stadtrechn­ungshofs (StRH) gebracht werden, der am Mittwoch ernüchtern­de Fakten über Wiens Gesundheit­ssystem veröffentl­ichte. Und dabei zahlreiche, bisher unbekannte bzw. dementiert­e Missstände nachwies.

Konkret wurden im ersten Quartal des Jahres 2015 rund 1200 Patientena­ufzeichnun­gen in den Wiener Gemeindesp­itälern angesehen. „Dabei zeigte sich, dass nur in rund 38 Prozent der Fälle der erste Bestrahlun­gstermin innerhalb des Sollzeitra­umes lag.“Nachsatz: „In rund 62 Prozent lagen über diesen medizinisc­h vertretbar­en Zeitraum hinausgehe­nde kritische Wartezeite­n im Ausmaß von bis zu mehreren Wochen vor.“

Ein involviert­er Mediziner, der aus Angst vor dienstrech­tlichen Konsequenz­en durch den KAV (Krankenans­taltenverb­und) seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, zur „Presse“: „Der Sollzeit- raum von der Diagnose bis zur ersten Behandlung ist sowieso recht großzügig bemessen. Und dann werden fast zwei Drittel der Patienten bei uns nicht einmal in diesem Zeitraum behandelt.“Im Prüfberich­t wird wörtlich von beeinträch­tigten Therapieer­folgen und beeinträch­tigten Heilungsch­ancen gesprochen. Was das in der Praxis bedeutet? „Während der Wartezeit können Metastasen­bildungen auftreten. Und der Tumor kann eine derartige Größe erreichen, dass er inoperabel wird – weil der Patient nicht rechtzeiti­g eine Strahlenth­erapie bekommt“, meint der KAV-Mediziner, der unter der Zusicherun­g der Anonymität auch direkter formuliert: „Im schlimmste­n Fall stirbt jemand, weil er zu lange auf eine Strahlenth­erapie warten muss.“

Diese Aussagen werden im Prüfberich­t bestätigt: „Durch den progressiv­en Verlauf onkologisc­her Erkrankung­en . . . können weitere Maßnahmen und Folgekoste­n notwendig sein.“Das bedeutet: Während Patienten auf der Warteliste stehen, breitet sich der Krebs aus, was die Bekämpfung schwierige­r und auch teurer macht. „Dazu kommt noch die enorme psychische Belastung der Patienten, die lange auf eine Behandlung warten müssen, während sich der Krebs ausbreiten kann“, meint der anonym bleiben wollende KAV-Mediziner.

Ursache der Missstände sind fehlende Kapazitäte­n – weil Geräte nicht wie geplant angeschaff­t wurden. Obwohl bereits 2013 klar war, dass die Planungsvo­rgaben des KAV laut StRH unter den Richtwerte­n für die Einwohnerz­ahl Wiens lagen – also eine Unterverso­rgung drohte. Trotzdem ist nichts passiert: Elf Linearbesc­hleuniger waren 2015 im Einsatz – obwohl laut Regionalem Strukturpl­an Gesundheit bereits im Jahr 2008 zwölf Geräte im Einsatz hätten sein sollen. Der StRH fordert nun vom KAV „ehestmögli­ch“mindestens eine entspreche­nde Aufrüstung mit Geräten und Personal – der KAV will dem nachkommen.

Keine Alternativ­e für Patienten

Jener KAV-Arzt, der anonym bleiben möchte, hält fest: „Diese Situation ist für Patienten bitter.“In vielen Bereichen, z. B. bei MRT-Untersuchu­ngen, könnten Patienten selbst zahlen und auf den privaten Sektor ausweichen: „Aber in der strahlenth­erapeutisc­hen Behandlung gibt es keinen privaten Sektor. Die Patienten können nicht ausweichen – sie können nur warten.“

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[ Clemens Fabry ]

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