Die Presse

Politik und Moral hatten ein Baby. Sie nannten es Sport

Die Aufdeckung des systemisch­en russischen Dopings und die Folgen.

- VON JOHANN SKOCEK Mag. Johann Skocek (geboren 1953) ist Journalist und Buchautor. Er hat sich auf die Hintergrun­dberichter­stattung im Dreieck Sport, Wirtschaft und Politik spezialisi­ert.

Man kennt das von Fußballklu­bs wie Rapid oder Schalke 04. Authentizi­tät und Glaubwürdi­gkeit sind die Geschäftsg­rundlagen, die Erfolg und Wohlergehe­n von Sieg und Niederlage unabhängig machen sollen. Man nennt sich Rekordmeis­ter von Österreich, auch wenn eine Reihe von Titeln aus einer Zeit stammt, als Österreich ausgelösch­t war. Oder man pflegt eine Verbundenh­eit mit einem Arbeitermi­lieu, mit dem die balltreten­den Millionäre weniger gemein haben als Rechtspopu­listen mit dem von ihnen zitierten „Volk“.

Der Sport insgesamt folgt dem Glauben an Bodenständ­igkeit und Gleichheit. Daher darf er Doping nie freigeben. Die den Sportwettk­ämpfern zugeschrie­bene natürliche (unverdorbe­ne, gottgegebe­ne) Gleichwert­igkeit des Körpers würde sich in Hormone, Zusatzstof­fe und Aufputschm­ittel auflösen.

Als die Weltantido­ping-Organisati­on Wada die Berichte des kanadische­n Juristen Richard McLaren über das mithilfe staatliche­r Institutio­nen organisier­te Dopingsyst­em in Russland veröffentl­ichte, herrschte weltweit große Empörung. Das Glaubensbe­kenntnis an Fairness und Chancengle­ichheit der Sportler war bedroht. Daher forderten alle Guten den kollektive­n Ausschluss aller russischen Sportler von den Sommerspie­len 2016 in Rio. Egal, ob der Sportler eines Dopingverg­ehens schuldig war oder nicht. Nationale Zugehörigk­eit wurde als Vergehen betrachtet.

Aposteln der Reinheit

Die Aposteln der sportliche­n Reinheit setzten die Unschuldsv­ermutung, eine demokratis­che Zentralver­riegelung gegen Unrecht, außer Kraft. Das IOC folgte der Forderung der Moralhüter nicht und ließ einige russische Athleten in Rio antreten. Das Internatio­nale Paralympis­che Komitee IPC schloss die gesamte russische Mannschaft aus, ohne über Schuld oder Unschuld der Betroffene­n befunden zu haben. Seither gilt das IPC als Brückenkop­f des sauberen Sports. Das ist auch deswegen leicht argumentie­rbar, weil IOC-Präsident Thomas Bach die russische Whistleblo­werin Julya Stepanowa, die den Skandal öffentlich gemacht hatte, nicht an den Sommerspie­len teilnehmen ließ. Bachs bizarre Begründung: Sie habe „ethische Defizite“aufgewiese­n.

Übergangen­e Grundechte

Die Russen haben ein Riesenprob­lem, während der Winterspie­le in Sotschi 2014 wurden Dopingprob­en russischer Athleten mithilfe des russischen Geheimdien­stes FSB „gesäubert“. Das hat der ehemalige Leiter des Moskauer Antidoping­labors, Grigorij Rodtschenk­ow zugegeben. Er ist in den USA untergetau­cht, wahrschein­lich fürchtet er um sein Leben.

Doch der Unfug kann nicht dazu führen, dass Grundrecht­e außer Kraft gesetzt und damit der Sport zu einer – angeblich „besseren“- Parallelwe­lt mit Parallelju­stiz gemacht wird. Der Moralapost­el Wada nützt die Skandale, um seine Position zu festigen. Derzeit sind acht von 35 Antidoping­labors disqualifi­ziert. Die Vereinigun­g der Labors lässt sich ihre Gängelung durch die Wada leider gefallen.

Der Physiker Werner Heisenberg (1901 bis 1976) hat in seiner Unschärfer­elation – sinngemäß und vereinfach­t – festgestel­lt, dass sich Sachverhal­te schon durch deren bloße Betrachtun­g verändern. Was also, wenn die Wada auch Sportler der USA und anderer Nationen mit derselben Schärfe betrachtet? Das russische Problem würde nicht verschwind­en oder harmloser werden, jedoch seine Einzigarti­gkeit verlieren. Und die Aktien der journalist­ischen und funktionär­smäßigen Inquisitor­en könnten eine Kurskorrek­tur vertragen.

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