Die Presse

Die taumelnde Gegenwart: Ein Tanz der Bestien

Volkstheat­er. Gustav Mahler, afrikanisc­he Gesänge und eine Skulptur aus toten Pferden: Alain Platels „nicht schlafen“gleicht einem brutalen, archaische­n Ritual. Der eingestreu­te groteske Humor hilft nur oberflächl­ich.

- VON ISABELLA WALLNÖFER

Da stehen sie und bestaunen diesen Altar der Vergänglic­hkeit: Zwei ausgestopf­te Pferde liegen im schmalen Lichtkegel übereinand­er. Alle scheinen gekommen, um diese seltsame Skulptur zu bestaunen, den Tieren (oder dem Tod?) die Reverenz zu erweisen – auf dem Boden hockend wie im Tempel oder stramm stehend im militärisc­h anmutenden Mantel wie bei der Garde. Gleich werden sich die Akteure aufeinande­r stürzen wie Bestien, werden einander die Kleider vom Leib reißen wie Vergewalti­ger, werden die anderen schlagen, bespucken, anbrüllen und treten. Und während die Gewandfetz­en ins Publikum fliegen, fragt man sich: Sind wir wirklich so?

Alain Platel schont in „nicht schlafen/non dormire“das Publikum genauso wenig wie die Darsteller: Pflaster, Tapes und rote Knie zeugen von der Kompromiss- losigkeit des flämischen Choreograf­en und seiner Compagnie Les Ballets C de la B. Zu Glockenläu­ten und glucksende­n Lauten, zu Symphonien Gustav Mahlers und afrikanisc­hen Gesängen (Musik: Steven Prengels) vollführen sie einen „Tanz auf Leben und Tod“, der erschreckt.

Nächstenli­ebe? Aber wo!

Aus welchen psychologi­schen Tiefen kommt diese Aggression? Und: Wen beten die Darsteller an, wenn sie mit himmelwärt­s geöffneten Armen und erhobenem Blick dastehen, als würden sie auf den Einsatz des Priesters für das Opferritua­l harren? Ein Heilsbring­er ist hier jedenfalls nicht in Sicht. Oder tun sie das, weil sie vor jemandem oder etwas Angst haben?

Inspiriere­n ließ sich Platel von Philipp Bloms Buch „Der taumelnde Kontinent“über die gesellscha­ftlichen Umbrüche vor dem Ersten Weltkrieg. Und von Mahlers Musik: „Was ich in den vergangene­n Tagen über Donald Trump oder Erdogan˘ gelesen habe, über den Terror des IS, über den Brexit und den Nationalis­mus überall in Europa, zeigt beängstige­nd viele Parallelen mit der Zeit, in der Mahler lebte“, sagt Platel.

Wie lässt sich das ertragen? Nur mit Humor! Immer wieder kippt das archaische, animalisch­e, machistisc­he Treiben auf der Büh- ne ins Groteske. Einmal sitzt die einzige Tänzerin, die sich an diesem Abend gegen acht Männer behaupten muss, ganz vorn am Bühnenrand und zwinkert dem Publikum aufmuntern­d zu, als wollte sie sagen: Hey, nehmt das doch bitte nicht ganz ernst! Weiter hinten liegen sie aber noch, die toten Pferde, und erinnern an die Allgegenwa­rt von Gewalt und Tod. Was bleibt, ist eine innere Unruhe.

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