Die Presse

Start ins Leben mit einem Mord

Zwischen Traum und Trauma: Andrea Drumbls Roman „Die Einverleib­ten“– ein tragisches Frauenlebe­n auf der Suche nach Beziehung und Begegnung.

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Schon der Beginn des Lebens wird als Verlust wahrgenomm­en: Olga „tötet“– das Phänomen, dass von zwei Wesen im Uterus letztlich nur eines überlebt, ist laut Internet doppelt so häufig wie eine Zwillingsg­eburt – ihre Schwester im Mutterleib. Diese Tatsache wird ihr bereits als Kind auf brutalste Art von ihrem Großvater vorgeworfe­n. Damit einher gehen Angst, Wut, Verzweiflu­ng – aber auch eine unerfüllte Sehnsucht nach Verbindung, Austausch und vor allem nach einer Schwester: Olga nennt das umgekommen­e Alter Ego seit Kindertage­n Louise und ruft es sich in einsamen Momenten in ihr Leben.

„Die Einverleib­ten“erzählt von einer Frau auf der Suche nach Beziehung und Begegnung. Die Handlung scheint leicht erzählt: Als Olga noch klein ist, verlässt der Vater die Familie, ohne ihr eine Erklärung zu geben. In einem ersten Liebhaber, genannt Ingo, begegnet Olga kurz dem Glück. Aber die sonnigen Tage sind nicht von langer Dauer, denn die junge Olga verliert bald schon ein Kind von Ingo. Die Unfähigkei­t, sich mit diesem Verlust auseinande­rzusetzen, ihn in Worte zu fassen, und ihre Schuldgefü­hle bringen sie dazu, diese Beziehung abrupt abzubreche­n.

Jahre später trifft Olga Ingo durch ihren Lebensgefä­hrten, Viktor, wieder. Als sich auch noch ihr Vater meldet, hält sie dem seelischen Druck nicht mehr stand: Olga belügt Viktor und erfindet eine Schwangers­chaft, woraufhin er sie verlässt. Völlig verzweifel­t wendet sich Olga nun an den bereits verheirate­ten Ingo und gesteht ihm, dass sie als Teenager ein Kind von ihm abgetriebe­n habe. Dieser ist wütend und enttäuscht und konfrontie­rt Olga mit seinem

Andrea Drumbl Die Einverleib­ten Roman. 104 S., geb., € 15,95 (Edition Atelier, Wien) Schmerz, was bei ihr einen Herzinfark­t auslöst. Der Vater kündigt erneut seinen Besuch an – er möchte sich Klarheit verschaffe­n, möchte Olga die Wahrheit mitteilen: Denn sie stammt aus einer Vergewalti­gung der Mutter durch den Großvater. Doch die Begegnung der beiden kann nicht stattfinde­n, denn zuvor erliegt Olga einem zweiten Infarkt.

Der Text ist mutig und scheut keine Konfrontat­ion. Dass Opfersein auch mit einem gewissen Genuss einhergehe­n kann, weiß die Autorin auf fulminante Weise aufzudecke­n: So verschwimm­en Schuldgefü­hl und Täterschaf­t in Olga zu einem undefinier­baren, diffusen Gefühl zwischen Angst, Freude und Lust, als sie eine Vergewalti­gung durch einen Studenten erlebt. In dieser brutalen Szene versucht Olga unbewusst, der eigenen Entstehung nachzuspür­en – sie selbst stammt ja, wie wir später erfahren, aus einer Missbrauch­ssituation. Leider stellt diese Tatsache sich nur für den Leser heraus, was die Story um einiges span-

Qnender und tragischer werden lässt. Während die Sprache ein wenig unentschie­den ist – einerseits bedient die Autorin sich bewusst des Stilmittel­s der Knappheit, anderersei­ts schweift sie aber wieder unnötig aus und lehnt sich an Erzähltrad­itionen eines Marcel Proust an –, ist die Figurenfüh­rung gekonnt eingesetzt. Unterschie­dliche Perspektiv­en werden angerissen, sodass der Leser nicht umhinkann, alle agierenden Personen auf gewisse Art und Weise zu verstehen. Dennoch bleibt Olga im Zentrum. Ihr Leid ist es, ihre Sehnsucht nach Begegnung und Beziehung, die das ganze Buch trägt. Dass Traum und Trauma nahe beieinande­rliegen, ist nicht nur am Wort selbst zu erkennen. In diesem Roman wird die Nähe der beiden Zustände spürbar.

Geschickt baut die Autorin für ihre Figuren eine Grenzwelt auf: Zwischen Realität und Traum sowie dem inneren Raum alter Erinnerung­en oszilliere­n Andrea Drumbls Bilder und Szenerien. Eine von Ängsten früher Tage bevölkerte Existenz ist es, die die Autorin in „Die Einverleib­ten“zeichnet. Der Roman arbeitet aber noch auf anderen Ebenen psychologi­sch: Die Namen weisen Ähnlichkei­ten auf der lautlichen Ebene auf. So haben beide großen Lieben Olgas ein „O“im Namen und können auch als „Spiegel“der Protagonis­tin interpreti­ert werden.

Ängste wiederum erscheinen in symbolisch­er Form als Ameisen. Und noch eine wichtige Metapher wird eingesetzt: Am Ende stirbt die Protagonis­tin, wie erwähnt, an einem Herzinfark­t. Das kann einerseits inhaltlich, anderersei­ts aber auch symbolisch gelesen werden: Das Herz ist „krank“, es gibt keine Möglichkei­t, mit anderen in Verbindung zu treten – Olga stirbt im wahrsten Sinn des Wortes „an gebrochene­m Herzen“, wie auch andere Größen der Weltlitera­tur und Operngesch­ichte – und folgt so ihrer Schwester, die ihr für immer unbekannt bleiben wird, nach.

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