Die Presse

Die Kunst an der Grenze

- VON LISA MARIA HAGEN

Mit festen Schritten klettert Enrique Chiu die Leiter hinauf. Sechs Meter sticht der Hochsicher­heitszaun in den grauen Winterhimm­el. Vor ihm liegen Stacheldra­ht, Einöde und der Jeep der amerikanis­chen Grenzpoliz­ei. Hinter ihm die mexikanisc­he Grenzstadt Tijuana.

3145 Kilometer Grenze trennen Mexiko und die Vereinigte­n Staaten. Jeden Tag überqueren sie Tausende Menschen, viele von ihnen illegal. Rund 400.000 Lateinamer­ikaner schaffen es jedes Jahr ohne Papiere auf die andere Seite. Andere kostet der amerikanis­che Traum ihr Leben: Seit den 1990er-Jahren hat der amerikanis­che Grenzschut­z mehr als 6000 Tote an der Grenze geborgen.

Enrique Chiu sitzt vor seiner Staffelei und fährt mit dem Pinsel quer über die Leinwand. „Kunst“, erzählt er, „wollte ich schon als Kind machen.“Viele Jahre lang hat der Maler in Los Angeles und San Diego gelebt, seine Bilder dort in Galerien ausgestell­t, ein Künstlerko­llektiv gegründet. Er ist einer, der viele Träume hat und sie auch lebt. Einer, der oft lacht. Manchmal fällt, wieder aufsteht und weitermach­t.

Heute setzt sich Enrique Chiu in Tijuana für den künstleris­chen Austausch zwischen den Nachbarlän­dern ein. Er kennt beide Seiten der Grenze. Er kennt die Geschichte­n von Trennung, Tod und Angst, die sie für viele bedeutet. Angst auch, dass die Mauer mit dem USPräsiden­ten, Donald Trump, noch länger und noch höher werden soll. „Die Menschen hier sehen die Mauer als Symbol des Rassismus, der Angst, der Zwietracht“, sagt er, „für sie steht die Mauer für eine neue Politik, die uns Mexikaner ausgrenzen will.“

Enrique Chiu will der Welt deshalb beweisen, dass eine Grenze nicht nur entzweien, sondern dass sie auch vereinen kann. „Ich muss niemanden bestechen, ich muss kein Politiker sein, um die Welt zu verändern. Ich bin davon überzeugt, dass ich die Welt durch Kunst gestalten kann“, sagt Enrique. Sein Ziel sei es, die beiden Grenzstädt­e einander näherzubri­ngen, damit sich auch die Menschen auf beiden Seiten der Grenze wieder mehr annähern würden.

Enrique Chiu tippt in die Tasten seines Laptops. Auf Facebook lädt er Künstler und Freiwillig­e weltweit dazu ein, gemeinsam zwei Kilometer des Grenzzauns zu bemalen. „Mauer der Brüderlich­keit“nennt er seine Aktion, mit der er vor allem den vielen Migranten helfen will, die entweder auf der Suche nach einem besseren Leben in den USA oder aus den USA abgeschobe­n worden und in Tijuana hängen geblieben sind. „Unser Kunstwerk wird vielleicht keine finanziell­e Stütze für sie sein, aber es zeigt, dass wir gemeinsam alles erreichen können.“

Über 300 Menschen sind seinem Aufruf bisher gefolgt und aus den USA, Mexiko und dem Rest der Welt nach Tijuana gereist. Auf den rostigen Eisenstang­en des Zauns flattern nunmehr Schmetterl­inge, blühen Sonnenblum­en und steigen Luftballon­s in den Himmel.

Fingerspit­zen, die sich treffen

Tim Abraham kommt eigentlich aus Jordanien, lebt aber zurzeit in Tijuana. Er war von Anfang an bei dem Kunstproje­kt dabei, weil er sich wünscht, dass der bunte Grenzzaun die Trennung für die betroffene­n Familien erträglich­er macht. Jedes Wochenende beobachtet er, wie Menschen aus ganz Mexiko nach Tijuana kommen. Denn dort befindet sich der sogenannte Freundscha­ftspark, ein kleiner Abschnitt des Zauns, an dem sich die Familien durch den Grenzzaun hindurch sehen können. Berühren geht höchstens mit den Fingerspit­zen.

„Ich habe selbst Kinder, und es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie ein achtjährig­es Mädchen auf der mexikanisc­hen Seite seinen Geburtstag feiert und ihr Vater von der amerikanis­chen Seite aus zusehen muss“, sagt Tim Abraham, während er den Zaun mit groben Pinselstri­chen himmelblau grundiert.

Allein im vergangene­n Jahr wurden 150.000 Menschen aus den USA nach Mexiko abgeschobe­n. Mit Donald Trump als neuem US-Präsidente­n fürchten viele Mexikaner, dass sich die Lage in den kommenden Monaten drastisch zuspitzen werde. Schließlic­h hat Trump schon während des Wahlkampfs angekündig­t, bis zu drei Millionen illegale Einwandere­r schnellstm­öglich abzuschieb­en. Und eine starke, schöne Mauer zu bauen, denn keiner könne bessere Mauern bauen als er.

Enrique Chiu will diese Angst auf seine ganz eigene Art bekämpfen. Schließlic­h sei die Mauer nicht nur ein Symbol der Grenze beider Länder, sondern gleichzeit­ig eine Leinwand für die Hoffnung und die Gefühle ihrer Bewohner. „Natürlich können wir an der US-Politik nichts ändern“, sagt er, „aber wenn die Amerikaner in den kommenden vier Jahren eine neue Mauer bauen, werden wir die eben auch bemalen.“

Enrique Chiu träumt davon, eines Tages den gesamten Grenzzaun zwischen Mexiko und den Vereinigte­n Staaten zu bemalen. Andere mexikanisc­he Grenzstädt­e haben ihn bereits gebeten, sein Projekt bei ihnen fortzusetz­en. Die Stadt Tecate ist gleich als Nächstes dran. Zwei Frauen spazieren am Zaun entlang und betrachten die Malereien. Als sie Enrique Chiu und seine Helfer sehen, bleiben sie stehen, staunen und schießen Fotos. Enrique Chiu geht auf die beiden zu und erzählt ihnen von seinem Projekt. Die zwei Spanierinn­en sind begeistert und wollen selbst mitmachen. Also schnappt sich Enrique Chiu einen Farbkübel und bepinselt ihre Handfläche­n mit roter und gelber Farbe. Fest pressen die beiden Frauen ihre Hände gegen den Zaun, der hier keine Grenze mehr ist. Sondern ein Kunstwerk.

Ich bin davon überzeugt, dass ich die Welt durch Kunst gestalten kann. Enrique Chiu Künstler und Aktivist Wenn die Amerikaner in den kommenden Jahren eine neue Mauer bauen, werden wir die eben auch bemalen.

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[ iStockphot­o/f8grapher, APA/AFP/Alfredo Estrella, Lisa Maria Hagen ] Eines der \ekannteste­n Motive Tijuanas: der Bogen. Ü\er viele Kilometer Zaun trennen die USA und Mexiko. Ein Akt wider die Sym\olik: Der Künstler Enrique Chiu \esprüht den Zaun.
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