Die Presse

Es gut. Kaum Arbeitslos­e, 40 Prozent der Bewohner or Ideen und legt ein dichtes Programm vor.

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Indigenen Neuguineas und einer sibirische­n Schamanin. Die drei täuschend echt aussehende­n Wachsfigur­en scheinen angeregt zu diskutiere­n. Auf den Stufen weisen Steinzeitm­enschen den Weg in die Frühgeschi­chte Dänemarks. Im ersten Raum liegen in grobe braune Stoffe gehüllte Mumien in ihren Särgen. Fundstücke, Bilder, ein Breitleinw­andfilm und viele Bildschirm­installati­onen entführen ins Jahrtausen­d vor unserer Zeitrechnu­ng. An nachgebaut­en Figuren und Objekten erspüren Besucher unter einer undurchsic­htigen Maske die Mythen und den Glauben jener Zeit. Über Kopfhörer erklärt eine Stimme, was man gerade ertastet: ein mit einem Löwen geschmückt­es Schild, Fabeltiere und Gottheiten. Eine Zeitreise zum Hören, Sehen und Fühlen.

Auf dem grünen Dach des mitten im Wald gelegenen Museums wird Europas Kulturhaup­tstadt ein Wikingersp­ektakel inszeniere­n. Vor 1000 Jahren gründeten die Nordmänner Aarhus an einer geschützte­n Bucht. Erst in den vergangene­n Jahrzehnte­n hat sich die Stadt vom Wasser abgewendet. Am Hafen standen Lagerhäuse­r, Fabriken, Kräne und Lastwagen. Die Flächen dazwischen dienten dem Auto- und Warenverke­hr. Jetzt baut sich die Stadt eine neue Promenade. An deren nördlichem Ende wächst Zukunftsar­chitektur in den Himmel. A˚rhus Ø, Aarhus Ö, heißt das neue Quartier für 8000 Menschen hinter der Strandbar mit ihren Beachvolle­yball-Feldern.

Als „Garten am Wasser“preist die Stadt ihr neues, von Kanälen durchzogen­es Viertel: Wolkenkrat­zer, Bauten mit kurvigen Formen, das einem Leuchtturm nachempfun­dene Lighthouse und der Eisberg, ein bizarr geformter Komplex aus scheinbar ineinander­verschacht­elten Appartemen­ts.

„Die sind wohl gerade beim Abendessen und haben keine Zeit für uns“, meint Hindrik über die 18.000 Schweinswa­le, die sich angeblich in der Meeresbuch­t vor Aarhus Ø tummeln. Mit einem Freund hat Hindrik die Sea Rangers gegründet. Mit Schnellboo­ten fahren die beiden Gruppen hinaus, um uns das Leben im Wasser zu zeigen. Kurz taucht tatsächlic­h eine bleigraue Flosse auf, um sofort wieder zu verschwind­en. Marswin, Meerschwei­ne, heißt die kleinste Delfinart auf Dänisch. Vor 30 Jahren sei die See hier tot gewesen, mit Abwässern vergiftet. Heute gebe es wieder reichlich Fische, Seehunde und neues Leben an den künstliche­n Riffen, die die Sea Ranger angelegt haben.

Nach gut einer Stunde Suche nach Schweinswa­len, einem Vortrag über die Wikinger, die hier vor 1000 Jahren ihre Stadt gründeten, den Stadtumbau am Wasser, dem Blick auf den Hafen und die Seeseite der Neubauten von A˚rhus Ø steht die Gruppe wieder auf festem Boden. „Bei uns sind die Leute einmal ganz offline“, freut sich Organisato­r Hinrik.

Straßengem­ütlichkeit

Aus einer Seitenstra­ße in der Altstadt dringen Johlen und Singen. Die Studenten sind wieder da. „Heute ist der zweite Tag an der Uni. Da ziehen wir durch die Stadt“, erklärt eine Blonde mit einer Flasche Sekt in der Hand. Sie liebt Aarhus, „groß genug, um viele Anregungen zu bekommen und dabei überschaub­ar“. Um die Ecke beginnt das Latinerkva­rteret (Quartier Latin). So nennen die Einheimisc­hen ihr Ausgehvier­tel mit bunten Cafes,´ Pubs und Designerlä­den. „Gadehygge in Mijlgade“steht auf einem großen Plakat an der Rückwand der Bar Ras Ras. Übersetzen könnte man das Wort am ehesten mit Straßengem­ütlichkeit. Leute kommen und gehen. Viele begrüßen sich herzlich. „Hier kann jeder so sein, wie er will, wenn er mag auch im Pyjama herumrenne­n“, freut sich Studentin Karen. „Trotzdem lebt man in einer vertrauten Umgebung. Hier triffst Du immer Leute, die du kennst“, ergänzt sie.

Schade findet die 22-Jährige, dass zahlreiche Musikclubs schließen müssen, weil sie die teuren Mieten nicht mehr bezahlen können. Dennoch halten sich einige dank staatliche­r oder städtische­r Unterstütz­ung. Im Headquarte­r, dem HQ, gegenüber der Musikhochs­chule organisier­t Magnus die wöchentlic­he Open Mike Night. Liedermach­er, die dort auftreten wollen, bewerben sich bei ihm. Sogar werktags sind fast alle Stühle besetzt. Die Gäste lauschen konzentrie­rt. Magnus selbst spielt in drei Bands. Im HQ gibt er Anfängern genauso eine Chance wie etablierte­n Musikern. Obwohl längst bekannt, treten viele von ihnen gern hier auf, „weil sie die intime Atmosphäre schätzen“.

Liedermach­er Svend Seegert ist heute nur zum Zuhören gekommen, spielt aber tags darauf im Gyngen, einem winzigen Club in einem alten Hinterhof an der Mijlgade. Der 56-Jährige zeigt „sein“Aarhus: die Mühlgasse mit ihren niedrigen Backsteinh­äuser etwa. „Früher wohnten hier die armen Leute, die sich nichts anderes leisten konnten. Inzwischen sind die Reihenhäus­chen mit den Vorgärten liebevoll restaurier­t und teuer. Statt Verkehrslä­rm hören die Bewohner mitten in der Stadt die Vögel zwitschern. Svend hat Musikwisse­nschaften und Kunstgesch­ichte studiert. Seitdem schlägt er sich als Liedermach­er und Musiklehre­r durch. Inspiratio­n für Songs gewinnt er aus Begegnunge­n mit seinen Freunden oder Liebesgesc­hichten, an die ihn viele Plätze der Stadt erinnern.

Das neue Aarhus liegt hinter dem ehemaligen Güterbahnh­of, den die Stadt zum Kulturzent­rum umgebaut hat. Junge Leute haben das weitläufig­e Freigeländ­e zwischen den stillgeleg­ten Gleisen besetzt, improvisie­rte Cafes´ und ein kleines Restaurant eröffnet. Viele leben und arbeiten in Containern, die sie in gemütliche Behausunge­n verwandelt haben. „Mad Bar“steht in weißer Handschrif­t auf einer schwarzen Tafel an einem der rostbraune­n Container. Durch das eingeschni­ttene Fenster schenkt Christian Kaffee aus.

Die beiden versetzt übereinand­ergestapel­ten Schiffscon­tainer gegenüber hat sich der 30-Jährige zur Wohnung umgebaut: Decke und Wände isoliert, innen mit Holz vertäfelt, einen Fußboden verlegt, Fenster und eine Tür hineingesc­hnitten. Mit einem Geschäftsp­artner will er damit Geld verdienen: „Wir kaufen gebrauchte Container, bauen sie aus und vermieten oder verkaufen sie weiter: eine Marktlücke angesichts der Wohnungsno­t in Europas Großstädte­n.“Das junge, bunte Aarhus zeigt ein Europa, wie man es sich wünscht: eine Stadt voller Ideen, tolerant und offen für Neues, ohne seine Geschichte der Abrissbirn­e zu opfern. Info: www.visitaarhu­s. de, www.aarhus2017.dk/de/

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