Technik und Form, in Perfektion
Eine amerikanische Studie legt nahe: Es bleibt sinnvoll, dem gesprochenen Wort, dem handgeschriebenen Text, dem bedruckten Papier zu vertrauen.
Im Wiener MAK sinkt man am besten auf die Knie, um die kostbaren Exponate der Ausstellung zum Biedermeierglas zu betrachten.
Vor Kurzem erfuhr ich über den Medienverlag der TU Wien von einer Studie, die zwar bereits vor einigen Monaten veröffentlicht wurde, aber gerade jetzt, da so viel vom Erwerb digitaler Kompetenzen in den Schulen die Rede, hochaktuell ist.
Die beiden amerikanischen Forscher Geoff Kaufman von der Carnegie Mellon University und Mary Flanagan vom Dartmouth College untersuchten die unterschiedliche Auffassungsgabe beim Lesen von Informationen, die einerseits in klassischer gedruckter Papierform, andererseits elektronisch auf einem Bildschirm vermittelt wurden. So wurde den Testpersonen ein Text des Humoristen David Sedaris vorgelegt.
Als nach dem Lesen Fragen über bestimmte Details beantwortet werden sollten, schnitten die Leser der elektronischen Version gegenüber jenen der Papierversion mit 73 zu 58 Prozent Erfolgsquote besser ab, bei hintergründigen Fragen jedoch, die sich auf die im Text vermittelte Botschaft bezogen, erlitten die Leser der Tablets gegenüber denen des Papiers mit 48 zu 66 Prozent Erfolgsquote eine schmerzliche Niederlage.
Noch augenfälliger entwickelte sich der Unterschied, als den Testpersonen vier Prospekte von fiktiven Automodellen vorgelegt wurden, aus denen bei genauem Lesen klar hervorgeht, welches von ihnen je nach befragten Kriterien zu bevorzugen ist. 66 Prozent der Leser des Papiertextes konnten die richtige Auswahl treffen, aber nur 43 Prozent der Benützer von Tablets waren dazu in der Lage.
Vor Erfindung der Schrift wurde Wissen mündlich weitergegeben. Vielleicht geraten wir unversehens wieder in eine Ära, die Ray Bradbury in „Fahrenheit 451“vorausahnte, in der mit Buchstaben auf Papier Geschriebenes obsolet wird und man sich von Bildschirm zu Bildschirm mit den von Maschinen vorgeschlagenen Bildchen verständigt. Nur einzelne Dissidenten lässt Bradbury in die Wälder flüchten, wo sie einst gelesene und im Gedächtnis bewahrte Bücher vor ihren Kindern so rezitieren, dass auch die Hörer sie auswendig lernen und so vor dem Vergessen retten. Wie einst die Sänger der Antike die uralten Texte von Generation zu Generation überlieferten.
Auswendiglernen, das so schön im Französischen „apprendre par coeur“und im Englischen „learning by heart“heißt, ist aus unerfindlichen Gründen in unseren Schulen verpönt. Damit ist nicht das oberflächliche Auswendiglernen eines Prüfungsstoffes gemeint, das in manchen Fächern eine notwendige Plage sein mag und das die Mathematik zum Glück gar nicht kennt. Sondern das Auswendiglernen eines Textes, der das Gemüt so prägt, dass es sich lohnt, ihn für Jahre, sogar für ein ganzes Leben in sich zu tragen.
Mit der Schrift kann man ihn auslagern, das stimmt. Wenn es wenigstens die Handschrift wäre, die den Bezug des Textes zum Rezipienten unnachahmlich festigt. Aber seit der Erfindung der beweglichen Lettern, gesteigert durch die elektronische Datenaufbereitung, überwältigt die Fülle der Texte. Gottlob entdecken wir in dieser überbordenden Flut dennoch, jeder nach seinem Urteil, wertvolle Literatur, sei sie nüchtern sachbezogen, sei sie stimmungsvoll zu Herzen gehend.
Fraglos sind die elektronischen Datenträger ein Gewinn. Effektiver und umfassender verbreiten sie Information, als es je das bedruckte Papier konnte, von der Handschrift, von der mündlichen Überlieferung ganz zu schweigen. Die Elektronik wird verdrängen, sogar in großem Maße, und das ist durchaus zu begrüßen. Aber sie wird die nicht elektronische Vermittlung nicht vertreiben.
Die zu Beginn genannte Studie zeigt es, und es sollte im Schulunterricht ernst genommen werden: Es bleibt sinnvoll, Texte im Papierformat zu lesen, man nimmt sie einfach anders wahr. Die Wahrnehmung wird sogar gesteigert, wenn man sie selbst mit der Hand schreibt, und am innigsten, wenn man sie „par coeur“lernt.
Die Elektronik wird das Papier verdrängen, aber sie wird die nicht elektronische Vermittlung nicht vertreiben können.