May hat Mehrheit für den Austritt hinter sich
Großbritannien. Da das britische Unterhaus die Regierungspläne zum Brexit nicht stoppen konnte, rücken die Inhalte der Verhandlungen mit Brüssel in den Mittelpunkt der innenpolitischen Diskussion.
London. Es wird sein letzter großer Auftritt gewesen sein, und er wusste jeden Augenblick davon zu genießen: In einer rhetorischen Glanzleistung rechnete der ToryVeteran Ken Clarke in der BrexitDebatte des britischen Unterhauses mit seiner eigenen Regierung ebenso wie mit den Anhängern des EU-Austritts ab. In Anspielung auf das Märchenbuch „Alice im Wunderland“erwiderte er auf Brandreden über die glorreiche Zukunft des „endlich befreiten und souveränen Großbritannien“(so Parteikollege John Redwood): „Sie glauben, wir müssen nur dem Hasen in seinen Bau folgen, und wir werden in einem Schlaraffenland erwachen, wo nette Menschen wie die Präsidenten Trump und Erdogan˘ bereits Schlange stehen, uns günstige Handelsverträge anzubieten.“
Clarke, der seit 30 Jahren für die Konservativen im Parlament sitzt und zahlreiche Ministerämter bekleidet hat, brachte die Opposition zu Jubelstürmen. Seine eigene Partei konnte die Bravourrede des 76-jährigen EU-Befürworters verkraften, denn eine Mehrheit für die Annahme des Gesetzes zur Ermächtigung der Regierung zur Auslösung des EU-Austritts durch Anrufung des Artikels 50 stand schon vor der Abstimmung am Mittwochabend fest. Es wurde erwartet, dass nur rund 100 der 650 Abgeordneten gegen die Regierungsvorlage stimmen würden. Premierministerin Theresa May konnte in der Fragestunde Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour Party bereits selbstbewusst vorhalten: „Er kann vielleicht einen Protest anführen. Ich führe das Land.“
Das Land hatte am 23. Juni mit 51,9 Prozent für den Brexit gestimmt. Vor diesem Ergebnis kapitulierte in der Debatte auch die Opposition gegen den Gesetzesentwurf. Parlamentsvorsitzender John Bercow akzeptierte für die Abstimmung nur einen Änderungsantrag. Die schottischen Nationalisten verlangten, das Votum zu verschieben, da die Regierung das Unterhaus über ihre Absichten in den Verhandlungen nur unzu- reichend informiert habe und auch die Mitsprache der Landesteile wie Schottland ungeregelt sei. Alle weiteren Änderungswünsche werden in den nächsten Tagen in Ausschussberatungen zur Sprache kommen.
In den Mittelpunkt der EU-Befürworter rückt dabei immer mehr das Bemühen, den von der Regierung angekündigten „harten Brexit“(Komplettaustritt auch aus dem EU-Binnenmarkt) zu verhindern. „Die Regierung hat keinen Freifahrtschein erhalten“, sagte die Labour-Abgeordnete Maria Eagle in der Debatte. Der frühere konservative Generalstaatsanwalt Dominic Grieve warnte vor „einem hohen Preis“für den Brexit. „Ich glaube, wir haben einen schweren Fehler gemacht“, sagte er.
Angebot ausgeschlagen
Dennoch will die Regierung sich offenbar nicht von ihrem Kurs abbringen lassen. Der frühere Vizepremier Nick Clegg (2010–15) von den Liberaldemokraten informierte das Unterhaus, er wisse „aus verlässlicher Quelle“, dass London im vergangenen Sommer ein Angebot der deutschen Regierung für einen „weichen Brexit“ausgeschlagen habe. Nach Angaben von Clegg bot Berlin eine „Notbremse“für die Einwanderung an, London aber besteht auf einem völligen Ende der Personenfreizügigkeit. Die Regierung gab zu Cleggs Angaben keine Stellungnahme ab.
Dafür wiederholte der frühere britische EU-Botschafter Ivan Rogers gestern vor einem Parlamentsausschuss die Einschätzung, dass Großbritannien der Austritt aus der Union „40 bis 60 Milliarden Euro“kosten werde. „Geld wird ein Thema sein“, warnte er vor den Verhandlungen.
Angesichts der Tatsache, dass die Kosten des EU-Austritts mit steigenden Preisen, fallenden Investitionen und wachsender Unsicherheit immer deutlicher spürbar werden, scheint auch die Geduld der Briten an ihr Ende zu kommen: In einer gestern von der Zeitung „The Independent“veröffentlichten Umfrage sagten 51 Prozent der Befragten, sie würden lieber Neuverhandlungen mit der EU als einen schlechten Brexit-Deal sehen.