Europas Legitimation liegt in seiner Vergangenheit
Gastkommentar. Europa muss seine kulturelle Einheit und seine Vielfalt bewahren. Das wird durch das nationale Moment stark behindert.
Wer das besondere Vergnügen hat, im ORF oder im Dreiländersender 3sat die diversen Kulturnachrichten und -magazine zu genießen, erhält dort mit großer ideologischer Überzeugung vorgetragene, luzide Erklärungen von sogenannten Experten aus Psychologie, Soziologie, Ökonomie über Unterdrückung der Frauen, Homophobie, Terrorgefahr, Pressezensur oder die Ungleichverteilung von Reichtum und Armut.
Wenn dann doch solche kulturellen Randthemen wie Musik, Literatur, Theater oder Kunst ins Bild kommen, so überwiegen Hollywood, Musical, Pop – auf jeden Fall fast nur Gegenwärtiges. Was kann da ein kleiner Erdteil wie Europa noch bedeuten? Nur noch eine menschenfeindliche Festung, seltsamerweise freilich gleichzeitig eine innerlich zerfallende, wie uns dieselben Kultursendungen glauben machen wollen?
Würde man sich dagegen einmal für das alte kulturelle Erbe interessieren, sähe alles ganz anders aus. Da würden mit einem Mal sowohl Bedeutung und Einzigartigkeit als auch die Zusammengehörigkeit Europas sichtbar. Europa ist freilich nicht die Welt.
Fremdes und Eigenes
Ein guter Europäer braucht kein kosmopolitischer Weltbürger zu sein. Hinduistische Tempel, chinesische Pagoden, japanische Schriftzeichen, neuguineische Magie oder die Kaaba in Mekka dürfen ihm Geheimnisse bleiben, denn er hat mit Europa wahrlich genug zu tun. Er sollte mehr europäische Sprachen als Englisch zumindest halbwegs können, auch wenn er sich mit diesem allein in aller Welt zu verständigen vermag.
Ja, er darf zuerst einmal Waliser, Gascogner, Hesse oder Steyrer und gerade als solcher guter Europäer sein. Er soll eine regionale Heimat haben und davon ausgehend das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden suchen. Wo Fremdes und Eigenes einzig und allein im Wesen des Menschen übereinstimmen, soll zwar allgemeine Humanität die Richtlinie abgeben. Doch die Idee Europas ist jedenfalls damit weit überschritten, denn sie hat engere Grenzen, so wie Europa selbst.
Die Suche nach Gemeinsamem hat da aber beste Aussicht auf Erfolg, da das gemeinsame Europa nicht, wie ständig behauptet wird, erst errichtet, sondern nur freigelegt werden muss. Es gibt es nämlich schon seit Langem.
Bismarck soll gesagt haben: „Ein Volk, das keine Geschichte hat, hat auch keine Zukunft.“Auf Bismarck berufen sich zwar Demokraten nicht eben gern, österreichische schon gar nicht. Aber ersetzt man Volk durch Europa, so hat der Satz seinen guten Sinn.
Denn die entscheidende Legitimation kommt nur aus der Tiefe der Zeit. Am Beginn des Mittelalters (siebentes bis neuntes Jahrhundert) ist die Gemeinschaft
des christlich-lateinischen Abendlandes aus dem karolingischen Imperium, in der Abwehr des Islam und dem bewussten Anschluss an die Antike geschaffen worden. Im Hochmittelalter (elftes bis 13. Jahrhundert) verbreitet sich von Frankreich aus eine epochale kulturelle Blüte über die romanischen, germanischen, keltischen und westslawischen Länder katholischen Glaubens. Als sichtbare grandiose Zeugnisse dieser Blüte sind die gotischen Dome von Trondheim bis Palermo, von Sevilla bis Königsberg bis heute Gegenstand höchster Bewunderung. Aber die großen Dichter, Wissenschaftler und Theologen dieses Raumes und dieser Zeit werden ebenso von gemeinsamen Vorstellungen und Idealen geprägt.
In der frühen Neuzeit musste dann das islamische Osmanische Reich abgewehrt werden. Im Gegenzug erfasste, ausgehend von Italien, die Kultur des Barock als einigende Bewegung den Kontinent, ohne dass sich die engere kulturelle Einheit des 12./13. Jahrhunderts nochmals eingestellt hätte. Stattdessen erwachen im 18. Jahrhundert zugleich mit den demokratischen auch die nationalen Bewegungen, die Europa vorerst auseinandertreiben.
Europäische Etappenerfolge
Aufklärung, Romantik, Historismus, Jugendstil u. a. verbinden die eigenwilligen Nationalitäten trotzdem ziemlich allgemein. Im 20. Jahrhundert scheint sich zwar Grillparzers berühmtes Wort vom Weg „von der Humanität zur Nazionalität zur Bestialität“zu bestätigen, doch ist auch „Humanität“weit mehr Ideal als Realität gewesen.
An dieser baut Europa noch immer, aber wenigstens die Etappenerfolge können sich sehen lassen. Noch im 17. Jahrhundert war der religiöse Glaube Grund für die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges gewesen, eines endlosen, erbarmungslosen Gemetzels wie jetzt im Nahen Osten und anderswo in der Welt. Die demokratischen Ziele des 18. Jahrhunderts lösten zwar in der Französischen Revolution auch ein Blutbad aus, setzten sich aber schließlich doch durch, zuerst in Nordamerika.
Sittenrichter über die Welt
Europa hat inzwischen nach schweren Rückschlägen auch eigene Lösungen gefunden, die es – wohl mit Recht – für überlegen hält, damit aber noch lange kein Recht hat, sie allen Völkern der Welt vorzuschreiben. Progressive Europäer werfen sich immer mehr zu Sittenrichtern über die Welt auf.
Selbst unter der Voraussetzung, dass dieselben hehren moralischen Ziele für die ganze Welt zu formulieren wären, müsste allen Völkern zu ihrer Verwirklichung die gleiche Zeit wie den Europäern, also Jahrhunderte, zugebilligt werden. Wenn jene sich immer noch in einem soziokulturellen Zustand, den man bei uns abwertend mittelalterlich nennt, befinden oder sich bis vor Kurzem befunden haben, wird ein plötzlicher Sprung ins 21. Jahrhundert ohne Übergangsformen, und seien es autoritäre, geradezu ruinös sein.
Wenn dieselben Europäer dann doch den Misserfolg ihrer moralischen Mission erkennen, fühlen sie sich verpflichtet, die Folgen des Scheiterns zu tragen – das heißt die Hungernden, Mühseligen und Beladenen aller Welt bei sich aufzunehmen, ohne Rücksicht auf die anderen Europäer, die sich dadurch überfordert fühlen und zuerst im eigenen Haus Europa Ordnung machen wollen.
Damit meine ich jetzt nicht die wirtschaftliche Seite, sondern die ungemein schwierige gleichzeitige Wahrung der kulturellen Einheit und Vielfalt. Beides wird durch das nach wie vor dominierende nationale Moment stark behindert.
Aufwertung der Regionen
Ohne es beseitigen zu wollen, sollte man der Eigenständigkeit der Regionen einen hohen Rang zusprechen. Regionen, die erst in neuerer Zeit von Nationen „geschluckt“wurden, sollten die Nation auch ohne Repressalien wieder verlassen dürfen. Großbritanniens, Spaniens, Frankreichs, Italiens Führungen behandeln ihr jeweiliges Land nach wie vor vielfach wie einen monolithischen Block.
Damit wird das Erbe des alten Europa viel eher zugeschüttet, erst recht durch die übereilte Begrüßung von Ländern in der EU, die vom Erbe recht wenig mitbekommen haben. Zur Mitgliedschaft prädestinieren nicht allein Demokratie und Wirtschaftskraft, denn die gibt es auch anderswo in der Welt. Europa ist aber nicht die Welt.