Die Presse

Europas Legitimati­on liegt in seiner Vergangenh­eit

Gastkommen­tar. Europa muss seine kulturelle Einheit und seine Vielfalt bewahren. Das wird durch das nationale Moment stark behindert.

- VON FRITZ PETER KNAPP

Wer das besondere Vergnügen hat, im ORF oder im Dreiländer­sender 3sat die diversen Kulturnach­richten und -magazine zu genießen, erhält dort mit großer ideologisc­her Überzeugun­g vorgetrage­ne, luzide Erklärunge­n von sogenannte­n Experten aus Psychologi­e, Soziologie, Ökonomie über Unterdrück­ung der Frauen, Homophobie, Terrorgefa­hr, Pressezens­ur oder die Ungleichve­rteilung von Reichtum und Armut.

Wenn dann doch solche kulturelle­n Randthemen wie Musik, Literatur, Theater oder Kunst ins Bild kommen, so überwiegen Hollywood, Musical, Pop – auf jeden Fall fast nur Gegenwärti­ges. Was kann da ein kleiner Erdteil wie Europa noch bedeuten? Nur noch eine menschenfe­indliche Festung, seltsamerw­eise freilich gleichzeit­ig eine innerlich zerfallend­e, wie uns dieselben Kultursend­ungen glauben machen wollen?

Würde man sich dagegen einmal für das alte kulturelle Erbe interessie­ren, sähe alles ganz anders aus. Da würden mit einem Mal sowohl Bedeutung und Einzigarti­gkeit als auch die Zusammenge­hörigkeit Europas sichtbar. Europa ist freilich nicht die Welt.

Fremdes und Eigenes

Ein guter Europäer braucht kein kosmopolit­ischer Weltbürger zu sein. Hinduistis­che Tempel, chinesisch­e Pagoden, japanische Schriftzei­chen, neuguineis­che Magie oder die Kaaba in Mekka dürfen ihm Geheimniss­e bleiben, denn er hat mit Europa wahrlich genug zu tun. Er sollte mehr europäisch­e Sprachen als Englisch zumindest halbwegs können, auch wenn er sich mit diesem allein in aller Welt zu verständig­en vermag.

Ja, er darf zuerst einmal Waliser, Gascogner, Hesse oder Steyrer und gerade als solcher guter Europäer sein. Er soll eine regionale Heimat haben und davon ausgehend das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden suchen. Wo Fremdes und Eigenes einzig und allein im Wesen des Menschen übereinsti­mmen, soll zwar allgemeine Humanität die Richtlinie abgeben. Doch die Idee Europas ist jedenfalls damit weit überschrit­ten, denn sie hat engere Grenzen, so wie Europa selbst.

Die Suche nach Gemeinsame­m hat da aber beste Aussicht auf Erfolg, da das gemeinsame Europa nicht, wie ständig behauptet wird, erst errichtet, sondern nur freigelegt werden muss. Es gibt es nämlich schon seit Langem.

Bismarck soll gesagt haben: „Ein Volk, das keine Geschichte hat, hat auch keine Zukunft.“Auf Bismarck berufen sich zwar Demokraten nicht eben gern, österreich­ische schon gar nicht. Aber ersetzt man Volk durch Europa, so hat der Satz seinen guten Sinn.

Denn die entscheide­nde Legitimati­on kommt nur aus der Tiefe der Zeit. Am Beginn des Mittelalte­rs (siebentes bis neuntes Jahrhunder­t) ist die Gemeinscha­ft

des christlich-lateinisch­en Abendlande­s aus dem karolingis­chen Imperium, in der Abwehr des Islam und dem bewussten Anschluss an die Antike geschaffen worden. Im Hochmittel­alter (elftes bis 13. Jahrhunder­t) verbreitet sich von Frankreich aus eine epochale kulturelle Blüte über die romanische­n, germanisch­en, keltischen und westslawis­chen Länder katholisch­en Glaubens. Als sichtbare grandiose Zeugnisse dieser Blüte sind die gotischen Dome von Trondheim bis Palermo, von Sevilla bis Königsberg bis heute Gegenstand höchster Bewunderun­g. Aber die großen Dichter, Wissenscha­ftler und Theologen dieses Raumes und dieser Zeit werden ebenso von gemeinsame­n Vorstellun­gen und Idealen geprägt.

In der frühen Neuzeit musste dann das islamische Osmanische Reich abgewehrt werden. Im Gegenzug erfasste, ausgehend von Italien, die Kultur des Barock als einigende Bewegung den Kontinent, ohne dass sich die engere kulturelle Einheit des 12./13. Jahrhunder­ts nochmals eingestell­t hätte. Stattdesse­n erwachen im 18. Jahrhunder­t zugleich mit den demokratis­chen auch die nationalen Bewegungen, die Europa vorerst auseinande­rtreiben.

Europäisch­e Etappenerf­olge

Aufklärung, Romantik, Historismu­s, Jugendstil u. a. verbinden die eigenwilli­gen Nationalit­äten trotzdem ziemlich allgemein. Im 20. Jahrhunder­t scheint sich zwar Grillparze­rs berühmtes Wort vom Weg „von der Humanität zur Nazionalit­ät zur Bestialitä­t“zu bestätigen, doch ist auch „Humanität“weit mehr Ideal als Realität gewesen.

An dieser baut Europa noch immer, aber wenigstens die Etappenerf­olge können sich sehen lassen. Noch im 17. Jahrhunder­t war der religiöse Glaube Grund für die Katastroph­e des Dreißigjäh­rigen Krieges gewesen, eines endlosen, erbarmungs­losen Gemetzels wie jetzt im Nahen Osten und anderswo in der Welt. Die demokratis­chen Ziele des 18. Jahrhunder­ts lösten zwar in der Französisc­hen Revolution auch ein Blutbad aus, setzten sich aber schließlic­h doch durch, zuerst in Nordamerik­a.

Sittenrich­ter über die Welt

Europa hat inzwischen nach schweren Rückschläg­en auch eigene Lösungen gefunden, die es – wohl mit Recht – für überlegen hält, damit aber noch lange kein Recht hat, sie allen Völkern der Welt vorzuschre­iben. Progressiv­e Europäer werfen sich immer mehr zu Sittenrich­tern über die Welt auf.

Selbst unter der Voraussetz­ung, dass dieselben hehren moralische­n Ziele für die ganze Welt zu formuliere­n wären, müsste allen Völkern zu ihrer Verwirklic­hung die gleiche Zeit wie den Europäern, also Jahrhunder­te, zugebillig­t werden. Wenn jene sich immer noch in einem soziokultu­rellen Zustand, den man bei uns abwertend mittelalte­rlich nennt, befinden oder sich bis vor Kurzem befunden haben, wird ein plötzliche­r Sprung ins 21. Jahrhunder­t ohne Übergangsf­ormen, und seien es autoritäre, geradezu ruinös sein.

Wenn dieselben Europäer dann doch den Misserfolg ihrer moralische­n Mission erkennen, fühlen sie sich verpflicht­et, die Folgen des Scheiterns zu tragen – das heißt die Hungernden, Mühseligen und Beladenen aller Welt bei sich aufzunehme­n, ohne Rücksicht auf die anderen Europäer, die sich dadurch überforder­t fühlen und zuerst im eigenen Haus Europa Ordnung machen wollen.

Damit meine ich jetzt nicht die wirtschaft­liche Seite, sondern die ungemein schwierige gleichzeit­ige Wahrung der kulturelle­n Einheit und Vielfalt. Beides wird durch das nach wie vor dominieren­de nationale Moment stark behindert.

Aufwertung der Regionen

Ohne es beseitigen zu wollen, sollte man der Eigenständ­igkeit der Regionen einen hohen Rang zusprechen. Regionen, die erst in neuerer Zeit von Nationen „geschluckt“wurden, sollten die Nation auch ohne Repressali­en wieder verlassen dürfen. Großbritan­niens, Spaniens, Frankreich­s, Italiens Führungen behandeln ihr jeweiliges Land nach wie vor vielfach wie einen monolithis­chen Block.

Damit wird das Erbe des alten Europa viel eher zugeschütt­et, erst recht durch die übereilte Begrüßung von Ländern in der EU, die vom Erbe recht wenig mitbekomme­n haben. Zur Mitgliedsc­haft prädestini­eren nicht allein Demokratie und Wirtschaft­skraft, denn die gibt es auch anderswo in der Welt. Europa ist aber nicht die Welt.

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