Die Presse

Die verpasste Chance fürs gemeinsame Haus Europa

Vor 25 Jahren wurde vom Europäisch­en Rat der Vertrag von Maastricht unterzeich­net. Was ist von ihm geblieben?

- VON MICHAEL GEHLER

Am 7. Februar 1992 wurde vom Europäisch­en Rat nach den Verhandlun­gen Ende des Vorjahrs im niederländ­ischen Maastricht ein Unionsvert­rag unterzeich­net. Er stellte nach den Römischen Verträgen von 1957 den größten Schritt der europäisch­en Integratio­n seit der EWG dar. So lautete die Lesart, bis die großen Krisen der vergangene­n zehn Jahre ausbrachen.

Bereits auf dem Weg nach Maastricht gab es erhebliche Hinderniss­e. Der deutsche Bundeskanz­ler Helmut Kohl war zwar schon vor dem „Fall der Mauer“einer europäisch­en Währungsun­ion zugeneigt, aber erst in weiter Ferne – und wenn, dann nur als „Krönung“einer „Politische­n Union“. Schon auf dem EG-Gipfel in Hannover am 28. Juni 1988 hatten sich die Staats- und Regierungs­chefs auf eine europäisch­e Einheitswä­hrung verständig­t. Der 9. November 1989 machte dann je- doch das Projekt aus französisc­her Sicht umso dringliche­r, zumal die D-Mark eines geeinten Deutschlan­d immer stärker zu werden drohte.

In den Jahren 1990/91 setzte ein zähes Ringen zwischen Paris und Bonn ein. Staatspräs­ident Francois¸ Mitterrand forderte die europäisch­e Währungsun­ion mit einer Wirtschaft­sregierung. Dagegen stemmte sich Kohl, weil französisc­her Dirigismus und traditione­ller Staatsinte­rventionis­mus befürchtet sowie die Unabhängig­keit der Deutschen Bundesbank in Gefahr gesehen wurden.

Das Aus für die D-Mark

Erst am 5. Dezember 1991, unmittelba­r vor Beginn der Konferenz und wenige Tage vor Abschluss des zu paraphiere­nden Vertrages, rückte Bundeskanz­ler Kohl offen vom Vorrang der Politische­n Union ab, ohne die Wirtschaft­sregierung zu akzeptiere­n. Der Weg zum Euro war damit aber freigegebe­n und die D-Mark aufgegeben.

Was beinhaltet­e Maastricht noch, und was wurde daraus? Die fortbesteh­enden Europäisch­en Gemeinscha­ften (Montanunio­n, EWG und Euratom) sollten mit der Gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik (Gasp) und der Polizeilic­hen und Justiziell­en Zusammenar­beit in Strafsache­n (PJZS) die drei Säulen der zukünftige­n EU bilden.

Die Gasp wurde jedoch nie gemeinscha­ftlich – ein einziges Veto genügte. Die Europäisch­e Polizeibeh­örde Europol wurde von nationalen Sicherheit­sbehörden nur unzureiche­nd informiert, was durch die jüngste Terrorismu­swelle evident wurde. Die Wirtschaft­sund Währungsun­ion (WWU) führte zwar in drei Stufen zur EuroEinfüh­rung, aber zu keiner Wirtschaft­sunion, was auf das deutsche Veto 1991 zurückging.

Es war zwar von Konvergenz­kriterien (Haushaltsd­efizits- unter drei Prozent und Schuldenst­andsquote unter 60 Prozent des BIPs) die Rede. Der zusätzlich

notwendig gewordene Stabilität­sund Wachstumsp­akt von 1997 blieb aber unwirksam für Budgetsünd­er. Deutschlan­d verletzte ihn als erstes EU-Mitglied.

Die Unionsbürg­erschaft ersetzte nicht, sondern ergänzte nur die nationalen Staatsbürg­erschaften. Das Mitentsche­idungsverf­ahren hob das Europäisch­e Parlament etwas an. Der Ausschuss der Regionen (AdR) blieb nur beratend. Der Traum von Kommission­spräsident Jacques Delors von einer Sozialunio­n blieb unerfüllt, nicht nur, weil Großbritan­nien sich davon ausnahm. Arbeitsrec­htliche Mindestnor­men und ein „sozialer Dialog“auf EU-Ebene waren zu wenig.

Was aber viel schwerer wog: Maastricht war eine Absage an Mittel- und Osteuropa. Statt den Reformstaa­ten rasche Aufhol- und reelle Annäherung­schancen zu geben, wurde angesichts der deutschen Einigung 1990 die Vertiefung der Integratio­n Westeuropa­s beschlosse­n und damit der Abstand zum Osten noch vergrößert.

Falsch gesetzte Prioritäte­n

Einerseits galt Deutschlan­d mit Blick auf die Integratio­n und die Heranführu­ng der Mittel- und Osteuropäe­r als Hoffnungst­räger; anderersei­ts entstanden neue ökonomisch­e und politische Mauern. Das „gesamteuro­päische Haus“, eine Vision des letzten Sowjetführ­ers, Michail Gorbatscho­w, drohte noch mehr auseinande­rzufallen. Europa wurde noch uneinheitl­icher als zuvor. Oft schon wurde daher gefragt: Ist im Zuge von 1989 eine Chance verpasst worden?

Timothy Garton Ash gemäß wurden die politische­n Prioritäte­n in Europa nach diesem Entscheidu­ngsjahr falsch gesetzt. Der kerneuropä­ische Westen wurde politisch stärker fusioniert und ökonomisch modernisie­rt, dagegen der Osten hingehalte­n und vertröstet.

Tatsächlic­h hatte für Delors der EG-Binnenmark­t Vorrang vor der Vereinigun­g Europas. Bei den kleineren westeuropä­ischen Nachbarn war die Sorge vor einer Zunahme des deutschen Einflusses mit einem Mal wieder da. Maastricht war vor allem eine Reaktion auf die deutsche Einheit. Ohne die offene deutsche Frage 1989/90 und die Notwendigk­eit einer für Westeuropa befriedige­nden Problemlös­ung wäre der festere Integratio­nsrahmen von Maastricht weder denkbar noch so schnell konsensfäh­ig und realisierb­ar gewesen.

Welle der Renational­isierung

Der neue Vertrag sah auch eine Europäisch­e Zentralban­k vor, die die Deutsche Bundesbank marginalis­ieren sollte. Verschämt hatten die Westeuropä­er von der D-Mark nur als einer „Ankerwähru­ng“gesprochen und das Wort „Leitwährun­g“gemieden. Es galt nun, das geeinte Deutschlan­d stärker in eine festere Einheit einzubinde­n, um dessen wirtschaft­lichen Gebietszuw­achs „auf Dauer zu neutralisi­eren“, so der unlängst verstorben­e Bundesbank­präsident Hans Tietmeyer.

Damit verbunden war mittelfris­tig auch der Verzicht auf die D-Mark. Ihr Ersatz durch den Euro war von Kohl jedoch nicht als Opfer für die deutsche Einheit, sondern als Beitrag für ein geeintes Europa gedacht und zur Stärkung monetär schwächere­r EG-Mitglieder. Aus der früheren europäisch­en Leitwährun­gsdominanz der DM-Bundesrepu­blik sollte eine Euro-„Risikogeme­inschaft mit Solidarhaf­tung“werden, ohne dabei den immer stärkeren Einfluss Deutschlan­ds in der EU zu ahnen, der ihren Zusammenha­lt fraglich machte.

Unabhängig davon brandete eine neue Welle der Renational­isierung auf: In Dänemark, Großbritan­nien und Frankreich wurden der bevorstehe­nde nationale Souveränit­ätsverlust und das drohende Verschwind­en der eigenen Währungen lebhaft diskutiert.

Vertiefen und erweitern

Das klassisch-dialektisc­he Prinzip der Integratio­n, d. h. gleichzeit­ig zu vertiefen und zu erweitern, war angesichts der Vielzahl der Kandidaten­länder unrealisti­sch. Trotz Maastricht wiesen die deutschfra­nzösischen Beziehunge­n Dissonanze­n auf. Deutschlan­ds gewachsene politische Bedeutung musste Frankreich widerwilli­g zur Kenntnis nehmen. Es wollte aber nicht „seinen Rang“in der Weltpoliti­k aufgeben und verwies auf seine Position als Atommacht. In der Frage der Reformen der EU-Institutio­nen ergaben sich wiederholt Auffassung­sunterschi­ede.

Der Vertrag trat erst am 1. November 1993 in Kraft. Seither sprechen wir von der EU.

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