Die verpasste Chance fürs gemeinsame Haus Europa
Vor 25 Jahren wurde vom Europäischen Rat der Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Was ist von ihm geblieben?
Am 7. Februar 1992 wurde vom Europäischen Rat nach den Verhandlungen Ende des Vorjahrs im niederländischen Maastricht ein Unionsvertrag unterzeichnet. Er stellte nach den Römischen Verträgen von 1957 den größten Schritt der europäischen Integration seit der EWG dar. So lautete die Lesart, bis die großen Krisen der vergangenen zehn Jahre ausbrachen.
Bereits auf dem Weg nach Maastricht gab es erhebliche Hindernisse. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl war zwar schon vor dem „Fall der Mauer“einer europäischen Währungsunion zugeneigt, aber erst in weiter Ferne – und wenn, dann nur als „Krönung“einer „Politischen Union“. Schon auf dem EG-Gipfel in Hannover am 28. Juni 1988 hatten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine europäische Einheitswährung verständigt. Der 9. November 1989 machte dann je- doch das Projekt aus französischer Sicht umso dringlicher, zumal die D-Mark eines geeinten Deutschland immer stärker zu werden drohte.
In den Jahren 1990/91 setzte ein zähes Ringen zwischen Paris und Bonn ein. Staatspräsident Francois¸ Mitterrand forderte die europäische Währungsunion mit einer Wirtschaftsregierung. Dagegen stemmte sich Kohl, weil französischer Dirigismus und traditioneller Staatsinterventionismus befürchtet sowie die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank in Gefahr gesehen wurden.
Das Aus für die D-Mark
Erst am 5. Dezember 1991, unmittelbar vor Beginn der Konferenz und wenige Tage vor Abschluss des zu paraphierenden Vertrages, rückte Bundeskanzler Kohl offen vom Vorrang der Politischen Union ab, ohne die Wirtschaftsregierung zu akzeptieren. Der Weg zum Euro war damit aber freigegeben und die D-Mark aufgegeben.
Was beinhaltete Maastricht noch, und was wurde daraus? Die fortbestehenden Europäischen Gemeinschaften (Montanunion, EWG und Euratom) sollten mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) die drei Säulen der zukünftigen EU bilden.
Die Gasp wurde jedoch nie gemeinschaftlich – ein einziges Veto genügte. Die Europäische Polizeibehörde Europol wurde von nationalen Sicherheitsbehörden nur unzureichend informiert, was durch die jüngste Terrorismuswelle evident wurde. Die Wirtschaftsund Währungsunion (WWU) führte zwar in drei Stufen zur EuroEinführung, aber zu keiner Wirtschaftsunion, was auf das deutsche Veto 1991 zurückging.
Es war zwar von Konvergenzkriterien (Haushaltsdefizits- unter drei Prozent und Schuldenstandsquote unter 60 Prozent des BIPs) die Rede. Der zusätzlich
notwendig gewordene Stabilitätsund Wachstumspakt von 1997 blieb aber unwirksam für Budgetsünder. Deutschland verletzte ihn als erstes EU-Mitglied.
Die Unionsbürgerschaft ersetzte nicht, sondern ergänzte nur die nationalen Staatsbürgerschaften. Das Mitentscheidungsverfahren hob das Europäische Parlament etwas an. Der Ausschuss der Regionen (AdR) blieb nur beratend. Der Traum von Kommissionspräsident Jacques Delors von einer Sozialunion blieb unerfüllt, nicht nur, weil Großbritannien sich davon ausnahm. Arbeitsrechtliche Mindestnormen und ein „sozialer Dialog“auf EU-Ebene waren zu wenig.
Was aber viel schwerer wog: Maastricht war eine Absage an Mittel- und Osteuropa. Statt den Reformstaaten rasche Aufhol- und reelle Annäherungschancen zu geben, wurde angesichts der deutschen Einigung 1990 die Vertiefung der Integration Westeuropas beschlossen und damit der Abstand zum Osten noch vergrößert.
Falsch gesetzte Prioritäten
Einerseits galt Deutschland mit Blick auf die Integration und die Heranführung der Mittel- und Osteuropäer als Hoffnungsträger; andererseits entstanden neue ökonomische und politische Mauern. Das „gesamteuropäische Haus“, eine Vision des letzten Sowjetführers, Michail Gorbatschow, drohte noch mehr auseinanderzufallen. Europa wurde noch uneinheitlicher als zuvor. Oft schon wurde daher gefragt: Ist im Zuge von 1989 eine Chance verpasst worden?
Timothy Garton Ash gemäß wurden die politischen Prioritäten in Europa nach diesem Entscheidungsjahr falsch gesetzt. Der kerneuropäische Westen wurde politisch stärker fusioniert und ökonomisch modernisiert, dagegen der Osten hingehalten und vertröstet.
Tatsächlich hatte für Delors der EG-Binnenmarkt Vorrang vor der Vereinigung Europas. Bei den kleineren westeuropäischen Nachbarn war die Sorge vor einer Zunahme des deutschen Einflusses mit einem Mal wieder da. Maastricht war vor allem eine Reaktion auf die deutsche Einheit. Ohne die offene deutsche Frage 1989/90 und die Notwendigkeit einer für Westeuropa befriedigenden Problemlösung wäre der festere Integrationsrahmen von Maastricht weder denkbar noch so schnell konsensfähig und realisierbar gewesen.
Welle der Renationalisierung
Der neue Vertrag sah auch eine Europäische Zentralbank vor, die die Deutsche Bundesbank marginalisieren sollte. Verschämt hatten die Westeuropäer von der D-Mark nur als einer „Ankerwährung“gesprochen und das Wort „Leitwährung“gemieden. Es galt nun, das geeinte Deutschland stärker in eine festere Einheit einzubinden, um dessen wirtschaftlichen Gebietszuwachs „auf Dauer zu neutralisieren“, so der unlängst verstorbene Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer.
Damit verbunden war mittelfristig auch der Verzicht auf die D-Mark. Ihr Ersatz durch den Euro war von Kohl jedoch nicht als Opfer für die deutsche Einheit, sondern als Beitrag für ein geeintes Europa gedacht und zur Stärkung monetär schwächerer EG-Mitglieder. Aus der früheren europäischen Leitwährungsdominanz der DM-Bundesrepublik sollte eine Euro-„Risikogemeinschaft mit Solidarhaftung“werden, ohne dabei den immer stärkeren Einfluss Deutschlands in der EU zu ahnen, der ihren Zusammenhalt fraglich machte.
Unabhängig davon brandete eine neue Welle der Renationalisierung auf: In Dänemark, Großbritannien und Frankreich wurden der bevorstehende nationale Souveränitätsverlust und das drohende Verschwinden der eigenen Währungen lebhaft diskutiert.
Vertiefen und erweitern
Das klassisch-dialektische Prinzip der Integration, d. h. gleichzeitig zu vertiefen und zu erweitern, war angesichts der Vielzahl der Kandidatenländer unrealistisch. Trotz Maastricht wiesen die deutschfranzösischen Beziehungen Dissonanzen auf. Deutschlands gewachsene politische Bedeutung musste Frankreich widerwillig zur Kenntnis nehmen. Es wollte aber nicht „seinen Rang“in der Weltpolitik aufgeben und verwies auf seine Position als Atommacht. In der Frage der Reformen der EU-Institutionen ergaben sich wiederholt Auffassungsunterschiede.
Der Vertrag trat erst am 1. November 1993 in Kraft. Seither sprechen wir von der EU.