„In zehn Jahren ist diese Hilfsindustrie tot“
Interview. Kilian Kleinschmidt leitete für die UNO das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt. Heute lebt er in Wien, ist Jungunternehmer und geht mit dem auf Spenden basierenden Hilfssystem hart ins Gericht. ÜBER HELD SPRICHT MAN DiePresse.com/meingeld
Die Presse: Ihr Vater war UniProfessor, Ihre Mutter war Lehrerin. Sie waren Ziegenbauer, Stuntman und Dachdecker in den Pyrenäen. Wie kam es dazu? Kilian Kleinschmidt: Mit vier konnte ich Lesen, mit fünf schrieb ich meinen ersten Miniroman. Ich war eines dieser Wunderkinder und eigentlich dafür prädestiniert, auch Uni-Professor oder Romanautor zu werden. Dann habe ich mich entschieden, dumm zu bleiben. Das war meine Revolution. Von meinem Vater – er hat ein revolutionäres Schulbuch geschrieben – habe ich aber auch gelernt, dass man Systeme verändern kann. Innovation bedeutet nicht technischer Fortschritt. Es bedeutet, Perspektiven zu ändern. Haben Sie sich deshalb entschieden, Entwicklungshelfer zu werden? Ich habe mich nur entschieden, mit dem Motorrad durch die Wüste zu fahren. In einer Kneipe in Mali habe ich dann Entwicklungshelfer kennengelernt und ihnen dabei geholfen, eine Schule aufzubauen. Wenig später bin ich nach Afrika zurückgekehrt und habe in Uganda ein Berufsbildungszentrum zum Vorzeigeprojekt gemacht. Ich merkte, dass meine Fähigkeiten in dem Job gefragt waren. Später bin ich bei den UN und im Krieg gelandet und dann mit 20.000 Sudanesen nach Kenia geflüchtet: Sie sind zu Flüchtlingen, ich bin zum Flüchtlingshelfer geworden. Es war kein Plan, sondern eine Kette von Zufällen.
Was hat Ihnen am Job gefallen? Zum einen war ich ein Adrenalinjunkie. Zum anderen kann ich ja auch etwas, ich war anscheinend einer der besseren EmergencyManager. Es ist sehr befriedigend zu wissen, dass man für sehr viele Menschen etwas Wichtiges bewirken kann.
Hat Sie Ihre Arbeit zu einem besseren Menschen gemacht? Nein, überhaupt nicht, sie hat mich zu einem Zyniker gemacht. Man erlebt furchtbare Dinge, Vertreibung, Tod, Massaker. Man beginnt, an das Schlechte in den Menschen zu glauben. Ich hatte psychische Probleme und entwickelte ein sehr großes Misstrauen gegenüber meinen Mitmenschen. Wenn ein paar Sachen zusammenbrechen, werden wir wieder aufeinander losprügeln, auch hier im wunderschönen Wien. In Wien haben Sie sich beruflich verändert und ein Unternehmen gegründet. Warum? 2014 habe ich zuerst – wie alle, die aus dem humanitären Bereich aussteigen – gemacht, was ich kannte: Ich habe einen Verein gegründet. Und dann landet man wieder in diesem Moloch. Als Start-up hat man gegen alteingesessene große Organisationen keine Chance. Da kommen so Fragen wie: „Wie war Ihr Umsatz vergangenes Jahr?“Null – es gab uns nicht. Ich war ja nur 25 Jahre bei der UNO. Außerdem habe ich oft gehört: „Du als Gutmensch musst das doch gratis machen.“Aber sorry, ich muss auch meine Miete zahlen. Es ging so weit, dass Leute von mir verlangt haben, dass ich einen Vortrag kostenlos halte. Ich habe gemerkt, das Charity-Business in dieser Form kann es nicht sein.
Sie nennen es Business? Weltweit müssen Organisationen um einen Betrag von 25 Mrd. Euro jährlich kämpfen. Es geht darum, Geld zu bekommen, Märkte zu erobern, Konkurrenten auszustechen, um Wettbewerb. Bloß dass es unter dem Mantel des Guten geschieht. In zehn Jahren ist diese zentralisierte hierarchische Hilfsindustrie tot oder sehr insignifikant. Was hat sich geändert, seit Sie im Vorjahr die Innovation and Planning Agency, die Unternehmen und Flüchtlingsprojekte vernetzt, gegründet haben? Es ist viel einfacher. Nur ich und zwei Mitarbeiter, Schluss. Außerdem reden die Leute ganz anders mit mir. Ich treffe Investoren, die etwas von Kapital verstehen. Es ist viel klarer und geradliniger. Es geht nicht um Karitatives, sondern um tief greifende Veränderungen und nachhaltige Investitionen.
Was ist Ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit? Es geht überall auf der Welt zuallererst darum, Jobs zu schaffen! Denn wer Arbeit hat, kann seine Kinder in die Schule schicken und Pläne entwickeln. Alle Menschen sollen den gleichen Zugang zu den Errungenschaften der Welt haben.
Warum hat Europa so eine große Anziehungskraft? Was heißt Anziehungskraft? Das ist ja nur ein winziger Teil der 300 Millionen „People on the move“, die nach Europa wollen. Wir müssen ein normales Verhältnis zu Migration bekommen, aus der wir ja auch entstanden sind. Bis 2050 brauchen wir 50 Millionen Arbeitskräfte. Also entweder bekom- me ich mehr Babys – viel Glück! –, oder ich brauche Migration.
Wenn es um Arbeitskräfte geht, dann werde ich mir die doch selbst aussuchen können? Für viele gibt es in Europa nur eine Möglichkeit – und die heißt Asyl. Hunderttausende werden abgelehnt, aber bleiben trotzdem. Damit haben wir ein riesiges Sicherheitsproblem. Wir brauchen legale Migration, sonst ist es wie beim Alkoholverbot: Die Leute saufen trotzdem. Wir haben zugeschaut, als die Schleppermafia das Geld abgegriffen hat. Die kleinen Schlepper aus der Türkei sind heute riesige Konzerne. Wenn jeder zwischen 5000 und 10000 Euro gezahlt hat, muss man sich einmal vorstellen, welche Summen da geflossen sind. Stattdessen könnte man das Geld in einen Sicherheitsfonds legen. Wer zurückgeht oder erfolgreich integriert ist, würde das Geld zurückbekommen. Wir müssen offener denken.
Sind wir zu engstirnig? Ja. Ein Beispiel: Ich betreue ein Projekt, mit dem in Jordanien Flüchtlinge innerhalb von vier Monaten zu Programmierern ausgebildet werden. Wenn ich das erzähle, haben viele den Reflex zu sagen: „Die brauchen doch etwas zu essen oder Decken, die dürfen nicht der IT-Wirtschaft in den Rachen geschoben werden.“Warum? So funktioniert Wirtschaft eben. Wenn wir an einen Flüchtling denken, haben wir das Bild eines armen Menschen, dem wir helfen müssen, den wir die nächsten 39 Jahre ernähren müssen. Dieses negative Bild haben wir dieser Hilfsindustrie zu verdanken.
Sie lassen ja kein gutes Haar an den NGOs. Ich habe ja selbst davon gelebt. Viele machen vernünftige Arbeit, aber das auf Spenden basierende System ist einfach falsch. Die Boko-Haram-Krise ist im Wettbewerb mit der Syrien-Krise, dann habe ich noch irgendwelche Naturkatastrophen. Und dann habe ich noch die NGOs, die miteinander konkurrieren, indem sie vermitteln, wie hilfsbedürftig und arm die Menschen sind. Einstein war auch ein Flüchtling. War er sein Leben lang abhängig von irgendwelchen Babywindeln und Suppenküchen? Er brauchte einen sicheren Ort zum Leben und arbeitete weiter.
Ändert die sogenannte Hilfsindustrie auch etwas am Selbstbild der Flüchtlinge? Natürlich. Je länger Menschen in diesem System sind, desto abhängiger und anspruchsvoller werden sie. In Bosnien haben sich die Menschen in den Neunzigern beschwert: „Wir wollen nicht das Haus dieser Hilfsorganisation, sondern das der anderen.“Im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien habe ich von den Syrern als Erstes gehört: „Als wir irakische Flüchtlinge aufgenommen haben, haben wir Wohnungen gebaut, und ihr steckt uns in Zelte.“Als ich vorschlug, wer mehr Strom will, soll zahlen, hieß es sofort: „Das sind doch Flüchtlinge.“Ja, aber sie wollen für sich verantwortlich sein, es geht um Menschenwürde und um Menschenrechte. Sie haben in Zaatari sogar die Gemeinschaftstoiletten zerlegt und sich eigene gebaut. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe: Sie wollen einfach nicht neben Fremden scheißen.