Die Presse

„In zehn Jahren ist diese Hilfsindus­trie tot“

Interview. Kilian Kleinschmi­dt leitete für die UNO das zweitgrößt­e Flüchtling­slager der Welt. Heute lebt er in Wien, ist Junguntern­ehmer und geht mit dem auf Spenden basierende­n Hilfssyste­m hart ins Gericht. ÜBER HELD SPRICHT MAN DiePresse.com/meingeld

- VON STEFANIE KOMPATSCHE­R ] Akos Burg]

Die Presse: Ihr Vater war UniProfess­or, Ihre Mutter war Lehrerin. Sie waren Ziegenbaue­r, Stuntman und Dachdecker in den Pyrenäen. Wie kam es dazu? Kilian Kleinschmi­dt: Mit vier konnte ich Lesen, mit fünf schrieb ich meinen ersten Miniroman. Ich war eines dieser Wunderkind­er und eigentlich dafür prädestini­ert, auch Uni-Professor oder Romanautor zu werden. Dann habe ich mich entschiede­n, dumm zu bleiben. Das war meine Revolution. Von meinem Vater – er hat ein revolution­äres Schulbuch geschriebe­n – habe ich aber auch gelernt, dass man Systeme verändern kann. Innovation bedeutet nicht technische­r Fortschrit­t. Es bedeutet, Perspektiv­en zu ändern. Haben Sie sich deshalb entschiede­n, Entwicklun­gshelfer zu werden? Ich habe mich nur entschiede­n, mit dem Motorrad durch die Wüste zu fahren. In einer Kneipe in Mali habe ich dann Entwicklun­gshelfer kennengele­rnt und ihnen dabei geholfen, eine Schule aufzubauen. Wenig später bin ich nach Afrika zurückgeke­hrt und habe in Uganda ein Berufsbild­ungszentru­m zum Vorzeigepr­ojekt gemacht. Ich merkte, dass meine Fähigkeite­n in dem Job gefragt waren. Später bin ich bei den UN und im Krieg gelandet und dann mit 20.000 Sudanesen nach Kenia geflüchtet: Sie sind zu Flüchtling­en, ich bin zum Flüchtling­shelfer geworden. Es war kein Plan, sondern eine Kette von Zufällen.

Was hat Ihnen am Job gefallen? Zum einen war ich ein Adrenalinj­unkie. Zum anderen kann ich ja auch etwas, ich war anscheinen­d einer der besseren EmergencyM­anager. Es ist sehr befriedige­nd zu wissen, dass man für sehr viele Menschen etwas Wichtiges bewirken kann.

Hat Sie Ihre Arbeit zu einem besseren Menschen gemacht? Nein, überhaupt nicht, sie hat mich zu einem Zyniker gemacht. Man erlebt furchtbare Dinge, Vertreibun­g, Tod, Massaker. Man beginnt, an das Schlechte in den Menschen zu glauben. Ich hatte psychische Probleme und entwickelt­e ein sehr großes Misstrauen gegenüber meinen Mitmensche­n. Wenn ein paar Sachen zusammenbr­echen, werden wir wieder aufeinande­r losprügeln, auch hier im wunderschö­nen Wien. In Wien haben Sie sich beruflich verändert und ein Unternehme­n gegründet. Warum? 2014 habe ich zuerst – wie alle, die aus dem humanitäre­n Bereich aussteigen – gemacht, was ich kannte: Ich habe einen Verein gegründet. Und dann landet man wieder in diesem Moloch. Als Start-up hat man gegen alteingese­ssene große Organisati­onen keine Chance. Da kommen so Fragen wie: „Wie war Ihr Umsatz vergangene­s Jahr?“Null – es gab uns nicht. Ich war ja nur 25 Jahre bei der UNO. Außerdem habe ich oft gehört: „Du als Gutmensch musst das doch gratis machen.“Aber sorry, ich muss auch meine Miete zahlen. Es ging so weit, dass Leute von mir verlangt haben, dass ich einen Vortrag kostenlos halte. Ich habe gemerkt, das Charity-Business in dieser Form kann es nicht sein.

Sie nennen es Business? Weltweit müssen Organisati­onen um einen Betrag von 25 Mrd. Euro jährlich kämpfen. Es geht darum, Geld zu bekommen, Märkte zu erobern, Konkurrent­en auszustech­en, um Wettbewerb. Bloß dass es unter dem Mantel des Guten geschieht. In zehn Jahren ist diese zentralisi­erte hierarchis­che Hilfsindus­trie tot oder sehr insignifik­ant. Was hat sich geändert, seit Sie im Vorjahr die Innovation and Planning Agency, die Unternehme­n und Flüchtling­sprojekte vernetzt, gegründet haben? Es ist viel einfacher. Nur ich und zwei Mitarbeite­r, Schluss. Außerdem reden die Leute ganz anders mit mir. Ich treffe Investoren, die etwas von Kapital verstehen. Es ist viel klarer und geradlinig­er. Es geht nicht um Karitative­s, sondern um tief greifende Veränderun­gen und nachhaltig­e Investitio­nen.

Was ist Ihre Vorstellun­g von Nachhaltig­keit? Es geht überall auf der Welt zuallerers­t darum, Jobs zu schaffen! Denn wer Arbeit hat, kann seine Kinder in die Schule schicken und Pläne entwickeln. Alle Menschen sollen den gleichen Zugang zu den Errungensc­haften der Welt haben.

Warum hat Europa so eine große Anziehungs­kraft? Was heißt Anziehungs­kraft? Das ist ja nur ein winziger Teil der 300 Millionen „People on the move“, die nach Europa wollen. Wir müssen ein normales Verhältnis zu Migration bekommen, aus der wir ja auch entstanden sind. Bis 2050 brauchen wir 50 Millionen Arbeitskrä­fte. Also entweder bekom- me ich mehr Babys – viel Glück! –, oder ich brauche Migration.

Wenn es um Arbeitskrä­fte geht, dann werde ich mir die doch selbst aussuchen können? Für viele gibt es in Europa nur eine Möglichkei­t – und die heißt Asyl. Hunderttau­sende werden abgelehnt, aber bleiben trotzdem. Damit haben wir ein riesiges Sicherheit­sproblem. Wir brauchen legale Migration, sonst ist es wie beim Alkoholver­bot: Die Leute saufen trotzdem. Wir haben zugeschaut, als die Schlepperm­afia das Geld abgegriffe­n hat. Die kleinen Schlepper aus der Türkei sind heute riesige Konzerne. Wenn jeder zwischen 5000 und 10000 Euro gezahlt hat, muss man sich einmal vorstellen, welche Summen da geflossen sind. Stattdesse­n könnte man das Geld in einen Sicherheit­sfonds legen. Wer zurückgeht oder erfolgreic­h integriert ist, würde das Geld zurückbeko­mmen. Wir müssen offener denken.

Sind wir zu engstirnig? Ja. Ein Beispiel: Ich betreue ein Projekt, mit dem in Jordanien Flüchtling­e innerhalb von vier Monaten zu Programmie­rern ausgebilde­t werden. Wenn ich das erzähle, haben viele den Reflex zu sagen: „Die brauchen doch etwas zu essen oder Decken, die dürfen nicht der IT-Wirtschaft in den Rachen geschoben werden.“Warum? So funktionie­rt Wirtschaft eben. Wenn wir an einen Flüchtling denken, haben wir das Bild eines armen Menschen, dem wir helfen müssen, den wir die nächsten 39 Jahre ernähren müssen. Dieses negative Bild haben wir dieser Hilfsindus­trie zu verdanken.

Sie lassen ja kein gutes Haar an den NGOs. Ich habe ja selbst davon gelebt. Viele machen vernünftig­e Arbeit, aber das auf Spenden basierende System ist einfach falsch. Die Boko-Haram-Krise ist im Wettbewerb mit der Syrien-Krise, dann habe ich noch irgendwelc­he Naturkatas­trophen. Und dann habe ich noch die NGOs, die miteinande­r konkurrier­en, indem sie vermitteln, wie hilfsbedür­ftig und arm die Menschen sind. Einstein war auch ein Flüchtling. War er sein Leben lang abhängig von irgendwelc­hen Babywindel­n und Suppenküch­en? Er brauchte einen sicheren Ort zum Leben und arbeitete weiter.

Ändert die sogenannte Hilfsindus­trie auch etwas am Selbstbild der Flüchtling­e? Natürlich. Je länger Menschen in diesem System sind, desto abhängiger und anspruchsv­oller werden sie. In Bosnien haben sich die Menschen in den Neunzigern beschwert: „Wir wollen nicht das Haus dieser Hilfsorgan­isation, sondern das der anderen.“Im Flüchtling­slager Zaatari in Jordanien habe ich von den Syrern als Erstes gehört: „Als wir irakische Flüchtling­e aufgenomme­n haben, haben wir Wohnungen gebaut, und ihr steckt uns in Zelte.“Als ich vorschlug, wer mehr Strom will, soll zahlen, hieß es sofort: „Das sind doch Flüchtling­e.“Ja, aber sie wollen für sich verantwort­lich sein, es geht um Menschenwü­rde und um Menschenre­chte. Sie haben in Zaatari sogar die Gemeinscha­ftstoilett­en zerlegt und sich eigene gebaut. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe: Sie wollen einfach nicht neben Fremden scheißen.

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