Die Presse

Grausamkei­ten vom Kinderonke­l: Erich Schleyer liest Grimm

Theater. Die Originalte­xte der Brüder Grimm waren alles andere als jugendfrei. Erich Schleyer packt die Urfassunge­n in eine Märchenstu­nde für Erwachsene.

- VON ERICH KOCINA

Ein wenig tut man ihm ja unrecht. Aber für viele ist er nun einmal der Kinderonke­l. Wer in den 1980ern und frühen 90ern aufgewachs­en ist, hat Erich Schleyer als Erzähler, Präsentato­r und Unterhalte­r in einigen Kindersend­ungen im Hinterkopf. „Der Kinderonke­l hat mich früher geärgert“, sagt der bald 77-Jährige, „weil ich das Glück hatte, als Schauspiel­er anerkannt zu werden.“In ernsten Rollen am Theater, aber auch in frivolen, etwa dem Frank N’ Furter in der „Rocky Horror Picture Show“. Wischt man den Protagonis­ten der kindlichen Erinnerung zur Seite, ist auch die Verwunderu­ng über sein aktuelles Projekt nicht mehr so groß.

In „Wer hat Angst vorm bösen Wolf“erzählt Schleyer die Märchen der Brüder Grimm – für Erwachsene. Also die Originalte­xte, die nicht jugendfrei waren und erst nach und nach für Kinder entschärft wurden. In der ursprüngli­chen Fassung legte sich etwa das Rotkäppche­n nackt neben den Wolf, ehe der es verspeiste. Brutalität bleibt aber auch in den Kinderfass­ungen übrig – wenn etwa Rotkäppche­n aus dem schlafende­n Wolf geschnitte­n und dessen Bauch mit Steinen angefüllt wird, sodass das Tier stirbt.

Kinder als Essen in der Not

Auch der Klassiker „Hänsel & Gretel“ist mit seinem Kannibalis­mus ein Stoff, der für Kinder recht heftig anmutet. Aber die geschilder­te Grausamkei­t, erzählt Schleyer, hatte eine Entsprechu­ng in der Realität. Viele Geschichte­n seien ja schon über Jahrhunder­te hinweg weitererzä­hlt worden – und in diesem Fall liege die Quelle etwa im 10. Jahrhunder­t, als es eine große Hungersnot gab. „In den Familien gab es viele Kinder – eines wurde besonders gut ernährt, aber nicht aus Liebe, sondern damit man es nachher schlachten, kochen und essen konnte.“Genau dieses Thema werde in „Hänsel & Gretel“aufgegriff­en.

Die Märchen, erzählt Schleyer, seien so brutal, dass die Bücher der Brüder Grimm nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikaner­n und Briten aus den Bibliothek­en entfernt worden seien. „So grausam können nur Deutsche sein“, hätte man damals festgestel­lt und eine Parallele zwischen den Erzählunge­n und den Gräueltate­n der Nazis gezogen. Und doch gehöre die Märchensam­mlung zu den drei großen Büchern der Menschheit – „da sind die Bibel, der Koran und eben Grimms Märchen“, meint Schleyer, „weil diese Geschichte­n tief in uns drinstecke­n“.

So wie etwa jene vom „Schmied und dem Teufel“, in dem ein lebhafter Schmied sein Geld verliert, sich umbringen möchte, vom Teufel jedoch zehn weitere luxuriöse Jahre bekommt – als Preis für seine Seele. Doch danach überlistet der Schmied den Teufel, sodass der den Pakt wieder aufheben muss. Und am Ende, als er weder in Himmel noch Hölle eingelasse­n wird, stiftet er soviel Unruhe vor der Hölle, dass der Teufel dafür sorgt, dass der Schmied doch in den Himmel einge- lassen wird. „Die Geschichte“, sagt Schleyer, „ist 6000 Jahre alt und im indoeuropä­ischen Raum überliefer­t worden. Der Teufel kann in anderen Versionen etwa auch ein Dschinn sein.“Es ist auch eines jener Märchen, das nur in der Erstauflag­e der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärche­n“enthalten war und das wie einige weitere durch andere Geschichte­n ersetzt wurde.

Doch so alt die Geschichte­n auch sein mögen, die die Brüder Grimm gesammelt und aufgeschri­eben haben, es gebe immer Parallelen zur heutigen Zeit. „Es sind oft Vertreibun­gs- und Flüchtling­sgeschicht­en“, sagt Schleyer. Kinder, die vertrieben werden und Not leiden, gebe es heute genauso. Und schon Elias Canetti habe gesagt, „dass uns ein genaueres Studium der Märchen darüber belehren würde, wie es in der Welt zugeht“.

Bedenken, dass Kinder durch grausame Geschichte­n verschreck­t würden, hat Schleyer nicht: „Kinder brauchen Märchen, um Dinge zu verarbeite­n.“Das funktionie­re auch, immerhin seien Kinder beim Zuhören oder Lesen als Beobachter von außen in einer Position, in der sie mehr wissen als die Hauptfigur. Die Vorstellun­gen im Theater in der Josefstadt bleiben dennoch Erwachsene­n vorbehalte­n. Kinderonke­l hin oder her.

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[ Valerie Voithofer ] Düster, grausam, aber doch mit Humor will Erich Schleyer Grimms Märchen erzählen.

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