Die Presse

Warschau greift die Kommission an

EU/Polen. Anstatt auf die Vorwürfe der Aushöhlung der Rechtsstaa­tlichkeit zu reagieren, wirft Polens Regierung EU-Kommission­svize Frans Timmermans vor, voreingeno­mmen zu sein.

- Von unserem Korrespond­enten MICHAEL LACZYNSKI

Brüssel. Angesichts von Brexit, Griechenla­nd, Flüchtling­skrise, EU-Reform und Donald Trump ist der Streit um das polnische Verfassung­sgericht nur eine Nebenbaust­elle für die Europäisch­e Kommission. Doch auch Nebenbaust­ellen werden von der Brüsseler Behörde selten vernachläs­sigt. Am gestrigen Dienstag verstrich ein Ultimatum, das die Kommission der nationalpo­pulistisch­en Regierung in Warschau am 21. Dezember gestellt hatte: Kommission­svizepräsi­dent Frans Timmermans gab den Polen damals zwei weitere Monate Zeit, um die Bedenken der EU hinsichtli­ch einer Aushöhlung der Rechtsstaa­tlichkeit zu zerstreuen.

Worum geht es in dem seit gut einem Jahr schwelende­n Konflikt? Kurz vor dem Wahlsieg der nunmehrige­n Regierungs­partei „Recht und Gerechtigk­eit“(PiS) im Herbst 2015 hatte die Vorgängerr­egierung versucht, die Zusammense­tzung des Verfassung­stribunals zu verändern. Ein Teil der Neubesetzu­ngen wurde von den Höchstrich­tern für rechtswidr­ig befunden, zu dem Zeitpunkt hatten allerdings die Wahlsieger ihrerseits eigene Kandidaten für das Tribunal nominiert und ein neues Gesetz über die Arbeitswei­se des Tribunals erlassen. Als das Höchstgeri­cht diese Maßnahmen ebenfalls für verfassung­swidrig erklärte, weigerte sich die PiS-Regierung, die Urteile des Verfassung­stribunals zur Kenntnis zu nehmen – woraufhin sich die EUKommissi­on Anfang 2016 zum Einschreit­en gezwungen sah. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU leitete die Brüsseler Behörde ein Verfahren zur Überprüfun­g der Rechtsstaa­tlichkeit ein. Am Ende dieses mehrstufig­en Verfahrens könnte Polen theoretisc­h das Stimmrecht im Rat, dem Gremium der EU-Mitgliedst­aaten, entzogen werden – sofern sich im Rat die entspreche­nden Mehrheiten dafür finden. Das erscheint momentan unwahrsche­inlich, denn mit Ungarns Premier Viktor Orban´ hat Premiermin­isterin Beata Szydło einen Verbündete­n.

Mit dem Verstreich­en der Frist liegt es wieder einmal an der Kommission, den nächsten Schritt zu setzen. Die polnische Regierung hat der Brüsseler Behörde jedenfalls eine schriftlic­he Antwort übermittel­t, die nun sorgfältig geprüft werden müsse, wie es gestern hieß. In der Substanz dürften sich die Polen aber um keinen Millimeter bewegt haben, wie eine Stellungna­hme des polnischen Außenminis­teriums vom Montag verdeutlic­ht. Im Gegenteil: Gemäß dem Motto, wonach Angriff die beste Verteidigu­ng ist, dreht Außenminis­ter Witold Waszczykow­ski an der Eskalation­sschraube. Er warf Timmermans vor, politisch motiviert zu sein und Polen stigmatisi­eren zu wollen. „Wir rufen den Kommis- sionsvizep­räsidenten dazu auf, derartige Aktivitäte­n zu unterlasse­n.“

Die Wortwahl dürfte eine Reaktion auf den Schlagabta­usch gewesen sein, den sich Waszczykow­ski und Timmermans vergangene Woche bei der Münchener Sicherheit­skonferenz geliefert hatten. Der polnische Außenminis­ter äußerte in München Verständni­s für das EU-Austrittsv­otum der Briten und warf dem Kommission­svertreter vor, in einem „Elfenbeint­urm“zu sitzen – woraufhin Timmermans die polnische Regierung auffordert­e, ihre Landesverf­assung zu respektier­en und die Urteile des Höchstgeri­chts umzusetzen. Eine Sprecherin der Brüsseler Behörde stellt gestern klar: „Die Kommission ist politisch farbenblin­d, wenn es um Rechtsstaa­tlichkeit geht.“

Warschau nicht eingeladen

Angesichts der jüngsten Entwicklun­gen ist nicht davon auszugehen, dass die EU-Kommission es nun dabei belassen wird. Timmermans selbst hatte im Dezember gesagt, er schließe „keine Maßnahme“aus. Mit jeder weiteren Stufe des Rechtsstaa­tlichkeits­verfahrens rückt allerdings der Moment des politische­n Offenbarun­gseids näher: In dem Moment, in dem das Verfahren von der Kommission zum Rat wandert, müssen sich die Staats- und Regierungs­chefs der Union der Frage stellen, ob sie eine offene Konfrontat­ion mit Polen und Ungarn wollen.

Kurzfristi­g mögen Polen zwar keine Konsequenz­en drohen, auf längere Sicht dürfte der Konflikt sehr wohl Folgen haben – angefangen bei den EU-Zuschüssen für Polen ab dem Jahr 2020, über die im kommenden Jahr verhandelt wird, bis hin zur Einbindung in europapoli­tische Entscheidu­ngen. So hat Frankreich­s Staatspräs­ident Francois¸ Hollande die größten EU-Mitglieder Deutschlan­d, Italien und Spanien für Anfang März zu einem Treffen in Versailles eingeladen, um die anstehende Reform der EU zu planen. An Warschau erging keine Einladung.

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[ AFP ] Polens Premier Beata Szydło setzt im Rat auf Rückendeck­ung durch Ungarn.

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