Warschau greift die Kommission an
EU/Polen. Anstatt auf die Vorwürfe der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit zu reagieren, wirft Polens Regierung EU-Kommissionsvize Frans Timmermans vor, voreingenommen zu sein.
Brüssel. Angesichts von Brexit, Griechenland, Flüchtlingskrise, EU-Reform und Donald Trump ist der Streit um das polnische Verfassungsgericht nur eine Nebenbaustelle für die Europäische Kommission. Doch auch Nebenbaustellen werden von der Brüsseler Behörde selten vernachlässigt. Am gestrigen Dienstag verstrich ein Ultimatum, das die Kommission der nationalpopulistischen Regierung in Warschau am 21. Dezember gestellt hatte: Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans gab den Polen damals zwei weitere Monate Zeit, um die Bedenken der EU hinsichtlich einer Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit zu zerstreuen.
Worum geht es in dem seit gut einem Jahr schwelenden Konflikt? Kurz vor dem Wahlsieg der nunmehrigen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“(PiS) im Herbst 2015 hatte die Vorgängerregierung versucht, die Zusammensetzung des Verfassungstribunals zu verändern. Ein Teil der Neubesetzungen wurde von den Höchstrichtern für rechtswidrig befunden, zu dem Zeitpunkt hatten allerdings die Wahlsieger ihrerseits eigene Kandidaten für das Tribunal nominiert und ein neues Gesetz über die Arbeitsweise des Tribunals erlassen. Als das Höchstgericht diese Maßnahmen ebenfalls für verfassungswidrig erklärte, weigerte sich die PiS-Regierung, die Urteile des Verfassungstribunals zur Kenntnis zu nehmen – woraufhin sich die EUKommission Anfang 2016 zum Einschreiten gezwungen sah. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU leitete die Brüsseler Behörde ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit ein. Am Ende dieses mehrstufigen Verfahrens könnte Polen theoretisch das Stimmrecht im Rat, dem Gremium der EU-Mitgliedstaaten, entzogen werden – sofern sich im Rat die entsprechenden Mehrheiten dafür finden. Das erscheint momentan unwahrscheinlich, denn mit Ungarns Premier Viktor Orban´ hat Premierministerin Beata Szydło einen Verbündeten.
Mit dem Verstreichen der Frist liegt es wieder einmal an der Kommission, den nächsten Schritt zu setzen. Die polnische Regierung hat der Brüsseler Behörde jedenfalls eine schriftliche Antwort übermittelt, die nun sorgfältig geprüft werden müsse, wie es gestern hieß. In der Substanz dürften sich die Polen aber um keinen Millimeter bewegt haben, wie eine Stellungnahme des polnischen Außenministeriums vom Montag verdeutlicht. Im Gegenteil: Gemäß dem Motto, wonach Angriff die beste Verteidigung ist, dreht Außenminister Witold Waszczykowski an der Eskalationsschraube. Er warf Timmermans vor, politisch motiviert zu sein und Polen stigmatisieren zu wollen. „Wir rufen den Kommis- sionsvizepräsidenten dazu auf, derartige Aktivitäten zu unterlassen.“
Die Wortwahl dürfte eine Reaktion auf den Schlagabtausch gewesen sein, den sich Waszczykowski und Timmermans vergangene Woche bei der Münchener Sicherheitskonferenz geliefert hatten. Der polnische Außenminister äußerte in München Verständnis für das EU-Austrittsvotum der Briten und warf dem Kommissionsvertreter vor, in einem „Elfenbeinturm“zu sitzen – woraufhin Timmermans die polnische Regierung aufforderte, ihre Landesverfassung zu respektieren und die Urteile des Höchstgerichts umzusetzen. Eine Sprecherin der Brüsseler Behörde stellt gestern klar: „Die Kommission ist politisch farbenblind, wenn es um Rechtsstaatlichkeit geht.“
Warschau nicht eingeladen
Angesichts der jüngsten Entwicklungen ist nicht davon auszugehen, dass die EU-Kommission es nun dabei belassen wird. Timmermans selbst hatte im Dezember gesagt, er schließe „keine Maßnahme“aus. Mit jeder weiteren Stufe des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens rückt allerdings der Moment des politischen Offenbarungseids näher: In dem Moment, in dem das Verfahren von der Kommission zum Rat wandert, müssen sich die Staats- und Regierungschefs der Union der Frage stellen, ob sie eine offene Konfrontation mit Polen und Ungarn wollen.
Kurzfristig mögen Polen zwar keine Konsequenzen drohen, auf längere Sicht dürfte der Konflikt sehr wohl Folgen haben – angefangen bei den EU-Zuschüssen für Polen ab dem Jahr 2020, über die im kommenden Jahr verhandelt wird, bis hin zur Einbindung in europapolitische Entscheidungen. So hat Frankreichs Staatspräsident Francois¸ Hollande die größten EU-Mitglieder Deutschland, Italien und Spanien für Anfang März zu einem Treffen in Versailles eingeladen, um die anstehende Reform der EU zu planen. An Warschau erging keine Einladung.