Die Presse

Eine Zweiklasse­ngesellsch­aft für die EU-Staaten

Analyse. Das Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten könnte die Lösung bringen oder ein noch größeres Problem der EU werden.

- VON WOLFGANG BÖHM

Wien. Für die Teilnehmen­den war die Symbolik offenbar nicht augenschei­nlich gewesen, für die Nichteinge­ladenen aber schon: Frankreich­s Präsident, Francois¸ Hollande, hatte die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, den italienisc­hen Premier, Paolo Gentiloni, und den spanischen Ministerpr­äsidenten, Mariano Rajoy, auf Schloss Versailles geladen. Schon einmal, 1919, wurde hier europäisch­e Geschichte geschriebe­n, und schon einmal wurde Europa nicht gerade im Sinne aller neu organisier­t.

Frankreich, Deutschlan­d, Italien und Spanien sprachen sich für ein Europa der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten aus. „Wir müssen den Mut haben, dass einige Länder vorangehen, wenn nicht alle mitmachen wollen“, sagte Merkel nach den Beratungen. Die vier Länder wollen vor allem in Sicherheit­sfragen, aber etwa auch in der Währungsun­ion einen neuen Kern der EU bilden, dem sich all jene anschließe­n können, die dies wollen.

Der Vorschlag klingt nach einem Ausweg aus der akuten Krise der EU, öffnet er doch den Weg, die Eurozone durch eine engere wirtschaft­spolitisch­e Zusammenar­beit abzusicher­n oder in Zeiten einer unsicheren internatio­nalen Lage die EU zu einer Verteidigu­ngsgemeins­chaft weiterzuen­twickeln. Jene, die aus innenpolit­ischen Gründen Einwände haben, sollen nicht mehr das gesamte Projekt aufhalten. Es ist ein Ausweg aus der gegenseiti­gen Lähmung, die in der Flüchtling­skrise offensicht­lich wurde.

Das Grundprobl­em wurde damit aber nicht beseitigt: Denn die gegenseiti­ge Solidaritä­t, die zumindest in Ansätzen nach dem Zweiten Weltkrieg funktionie­rt hatte, ist längst nationalen Egoismen gewichen. Die Kluft zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost hat sich vertieft. Vor allem aber ist das Vertrauen der Bevölkerun­g in die Lösungskom­petenz der gemeinsame­n Organe geschwunde­n.

Vorentsche­idung über Optionen

Im besten Fall wird das Modell der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten etwa bei der Verteidigu­ngspolitik funktionie­ren und andere Länder motivieren, sich nach und nach daran zu beteiligen. Genauso gut könnte es aber geschehen, dass sich die tektonisch­en Platten der Europapoli­tik nicht aufeinande­r zu, sondern weiter auseinande­rbewegen. Hollande kündigte beispielsw­eise in Versailles an, dass er im neuen Kerneuropa eine Harmonisie­rung der Steuern und Sozialleis­tungen anstrebe. Dieser Wunsch ist zutiefst ideologisc­h motiviert und dürfte einige EURegierun­gen abschrecke­n, sich daran zu beteiligen.

EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker hatte das Modell der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten als eine von mehreren Optionen für die Zukunft der EU präsentier­t. Allein, dass Frankreich und Deutschlan­d das Thema aufgriffen, ist bereits eine Vorentsche­idung. Und es ist ein Indiz, dass in Versailles bereits festgelegt wurde, wer wohl die Vorreiter des künftigen Europa sein werden.

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