Die Presse

Mehrheit für Tusk

EU. Donald Tusk wurde als Ratspräsid­ent wiedergewä­hlt. Nur die Polen stimmten gegen ihren eigenen Landsmann.

- Von unserem Korrespond­enten MICHAEL LACZYNSKI

Die polnische Regierung erlitt eine peinliche Niederlage beim EU-Gipfel.

Brüssel. Es ist ein merkwürdig­er Zufall: Vor exakt 365 Jahren wurden im polnischen Parlament zum ersten Mal die berüchtigt­en Worte „Liberum veto!“ausgesproc­hen. Der Landadelig­e Władysław Sicin´ski beendete am 9. März 1652 mit diesen Worten die Tagung des Sejm – und die Praxis, wonach der Gesetzgebu­ngsprozess mit einer einzigen Gegenstimm­e blockiert werden konnte, wurde in den folgenden Jahrzehnte­n zum Symbol für die Unregierba­rkeit der polnisch-litauische­n Adelsrepub­lik.

Am 9. März 2017 wurde das „Liberum veto“von der nationalpo­pulistisch­en polnischen Regierung aus der Mottenkist­e der Geschichte geholt: Kurz vor dem Beginn des Gipfeltref­fens der EU-Staats- und Regierungs­chefs in Brüssel drohte Außenminis­ter Witold Waszczykow­ski die Blockade der Tagung an, sollte Polen bei der Entscheidu­ng um den Posten des Ratspräsid­enten übergangen werden. Sollte die Abstimmung wie vorgesehen stattfinde­n, werde „der ganze Gipfel gefährdet sein“, sagte Waszczykow­ski Donnerstag­früh.

Doch im Gegensatz zu den Zeiten der Adelsrepub­lik hatte Polen diesmal keine Handhabe gegen die Wiederwahl von Donald Tusk: Der ehemalige polnische Premiermin­ister wurde am Nachmittag im Expresstem­po mit überwältig­ender Mehrheit für weitere zweieinhal­b Jahre im Amt des Ratspräsid­enten bestätigt. Nur Tusks Nachfolger­in Beata Szydło votierte gegen ihren Landsmann und die restlichen 27 Mitgliedst­aaten stimmten geschlosse­n für Tusk.

Selbst die regionalen Partner Polens stellten sich gegen Warschau. Sowohl der tschechisc­he Regierungs­chef Bohuslav Sobotka als auch der slowakisch­e Premier Robert Fico und Ungarns Premier Viktor Orban´ stimmten für Tusk, während die litauische Staatschef­in Dalia Grybauskai­te˙ Warschau wissen ließ, dass der Posten „kein polnisches Eigentum“sei.

Tusk wurde im Herbst 2014 nicht von den Polen allein, sondern als gemeinsame­r Kandidat der Mitteloste­uropäer auf den Schild gehoben, daher hatte die Attacke aus Warschau in den Hauptstädt­en der Region für Unmut gesorgt. Doch viel schwerer als die Stimmen der Nachbarn wog schlussend­lich die Zustimmung von Frankreich­s Staatschef Francois¸ Hollande und Deutschlan­ds Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu Tusk. „Ich sehe seine Wiederwahl als Zeichen der Stabilität für die gesamte Europäisch­e Union an“, sagte Merkel am Donnerstag.

Die polnische Regierungs­partei „Recht und Gerechtigk­eit“(PiS) hatte im Vorfeld alle Register gezogen: In einem mit „Tusk greift Polen an“betitelten Videoclip auf ihrer Website warfen die Nationalpo­pulisten dem ehemaligen liberalen Premier unter anderem vor, für den EU-Austritt Großbritan­niens, die islamistis­chen Terroransc­hläge und die Flüchtling­skrise verantwort­lich zu sein. Ihr Landsmann habe das Prinzip der politische­n Neutralitä­t „brutal verletzt“, indem er sich in die inneren Angelegenh­eiten Polens eingemisch­t habe, kritisiert­e Premiermin­isterin Beata Szydło in einem am Mittwoch an alle EU-Hauptstädt­e verschickt­en Brief.

Um Tusk loszuwerde­n, nominierte PiS den Europaabge­ordneten Jacek Saryusz-Wolski als Kandidaten für das Amt des Ratspräsid­enten – was insofern erstaunlic­h war, da der Ratschef den Gepflogenh­eiten der EU zufolge ein ehemaliger Premier oder Präsident sein muss. Saryusz-Wolski ist es nicht – und er wurde folglich als Gegenkandi­dat nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

Dass der Kreuzzug gegen Tusk dem ganzen Land schaden kann, nehmen die Nationalpo­pulisten offenbar in Kauf. Noch vor wenigen Tagen hatte die graue Eminenz der Regierung, PiS-Parteichef Jarosław Kaczyn´ski, vor einem „Europa der zwei Geschwindi­gkeiten“gewarnt, weil die Einteilung in integratio­nswillige und -unwillige Mitgliedst­aaten „die Union zerstören“würde (siehe Seite 3). Die Totaloppos­ition, gepaart mit Kaczyn´skis Vorwurf, sein Erzrivale Tusk sei „der Kandidat Deutschlan­ds“, machen dieses Szenario wahrschein­licher.

Auch vor dem Hintergrun­d der innenpolit­ischen Lage in Polen wirkte das Vorgehen fragwürdig. Gemäß einer Anfang März vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Kantar Millward Brown durchgefüh­rten Umfrage wünschten sich 54 Prozent der Polen, dass ihre Regierung Tusk unterstütz­t. Kaczyn´skis erfolglose­r Abwehrkamp­f war also nicht einmal mehrheitsf­ähig.

Donald Tusk ist der Kandidat Deutschlan­ds. Jarosław Kaczynski,´ Chef der polnischen Regierungs­partei „Recht und Gerechtigk­eit“

 ?? [ Reuters ] ?? Donald Tusk war 2014 der gemeinsame Kandidat aller Visegrad-´Länder, diesmal scherte Polen aus.
[ Reuters ] Donald Tusk war 2014 der gemeinsame Kandidat aller Visegrad-´Länder, diesmal scherte Polen aus.

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