Die Presse

Wachsende Störung im Verhältnis zwischen West- und Osteuropa

EU-Reform. Von Warschau bis Sofia wächst der Ärger über ein Zweiklasse­nsystem.

- VON WOLFGANG BÖHM

Brüssel/Wien. Der Streit zwischen Polen und seinen westlichen EU-Partnern um die Wiederwahl von Donald Tusk als Ratspräsid­ent ist nur ein weiteres Indiz für eine neue Kluft in der Europäisch­en Union. Wahrlich symptomati­sch dafür war der jüngste Protest der Visegrad-´Länder (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) in Brüssel, bei dem sie behauptete­t haben, ihre Bürger würden von den großen Handelskon­zernen mit Lebensmitt­eln schlechter­er Qualität beliefert als Deutsche und Österreich­er. Die mittel- und osteuropäi­schen Länder fühlen sich in der EU in eine zweite Klasse gedrängt.

Jüngste Bestätigun­g für das mittlerwei­le tief verankerte Unrechtsem­pfinden lieferten Deutschlan­d und Frankreich diese Woche mit ihren Plänen für ein Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten. Berlin will gemeinsam mit Paris, Rom und Madrid unter anderem die Währungsun­ion und die Verteidigu­ngsgemeins­chaft weiter ausbauen. Wer nicht dazu bereit ist, soll vorerst draußen bleiben. Allein bei der Währungsun­ion ist allen bewusst, wer damit gemeint ist: die Mehrheit der 2004 und 2007 beigetrete­nen Länder (nur die baltischen Staaten, Slowakei und Slowenien zahlen in Euro). Auch bei einem Aufbau einer eigenständ­igen europäisch­en Verteidigu­ngspolitik will Frankreich nicht unbedingt auf die fest in der Nato verankerte­n ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten setzen.

Die mittel- und osteuropäi­schen Länder fühlen sich in der EU isoliert, auch wenn sie selbst – etwa in der Flüchtling­skrise – einiges dazu beigetrage­n haben. Polens Außenminis­ter, Witold Waszczykow­ski, warnte diese Woche vor den in Berlin und Paris gewälzten Plänen für ein Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten: „Das kann die Unterschie­de in Europa nur vertiefen.“

Dazu kommt, dass Brüssel für einige dieser Regierunge­n ein Synonym für ständige rechtliche Kontrovers­en geworden ist. Denn mehrfach hat die EU-Kommission noch vor einigen Jahren Sofia und Bukarest, heute Warschau und Budapest mit Vertragsve­rletzungsv­erfahren gedroht oder diese sogar eingeleite­t. Was für Verfechter der Rechtsstaa­tlichkeit als durchaus notwendig gilt, empfinden diese Länder als ungehörige Einmischun­g. Kommission­spräsident JeanClaude Juncker hat zudem den Fehler begangen, kaum in die „neuen“Mitgliedst­aaten zu reisen. Wie eine vom Brüsseler Insidermag­azin „Politico“veröffentl­iche Statistik belegt, konzentrie­rte der Luxemburge­r sich bei seinen Kontakten seit seinem Amtsanritt vor allem auf die EU-Gründersta­aten.

Den mittel- und osteuropäi­schen Ländern ist bewusst, dass sie durch den Brexit noch weiter an Einfluss verlieren werden. Denn mit London fällt einer ihrer wichtigste­n Fürspreche­r in der EU weg. Die einst guten Beziehunge­n zwischen der polnischen und deutschen Regierung sind durch die nationalis­tische Ausrichtun­g der aktuellen Führung in Warschau abgekühlt. Einzig das Verhältnis zu Österreich ist noch einigermaß­en intakt.

Kern traf Orban´ in Brüssel

Österreich gilt allein wegen seiner Größe, aber auch wegen der gemeinsame­n Geschichte als natürliche­r Verbündete­r dieser Länder. Eine enge Kooperatio­n kam aber nie zustande. Zuletzt hat sich das Verhältnis stattdesse­n eingetrübt. Sei es die Drohung von Bundeskanz­ler Werner Faymann beziehungs- weise seines Nachfolger­s, Christian Kern, die EU-Zahlungen für jene Länder zu kürzen, die in der Flüchtling­skrise keine ausreichen­de Solidaritä­t zeigten. Oder seien es die jüngsten Maßnahmen der Bundesregi­erung zur Reduzierun­g der ausländisc­hen Konkurrenz auf dem Arbeitsmar­kt. All dies hat bei den Nachbarsta­aten den Eindruck verstärkt, auch von Österreich diskrimini­ert zu werden.

Kern traf wegen solcher Differenze­n am Donnerstag in Brüssel mit seinem ungarische­n Amtskolleg­en, Viktor Orban,´ zusammen. Im Gespräch ging es um alle jene Fragen, die derzeit die beiden Nachbarn trennen: den geplanten Beschäftig­ungsbonus für österreich­ische Arbeitskrä­fte, die Indexierun­g der Familienbe­ihilfe für EU-Ausländer und den von Österreich kritisiert­en Ausbau des ungarische­n Atomkraftw­erks Paks.

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