Die Presse

Rohe Gegenwart? Zumindest wird niemand mehr gerädert

Einer ermordet einen Neunjährig­en und erhält vereinzelt Beifall im Internet: Das ist entsetzlic­h – und dennoch ein Fortschrit­t zu früher. Bis ins 19. Jahrhunder­t delektiert­en sich Massen an einer grausamen Hinrichtun­g.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON anne-catherine.simon@diepresse.com

Heimlich foltern und morden ist nur das halbe Vergnügen – das wussten schon die Helden des Marquis de Sade. Sie legten Wert auf Zuschauer. So wie der Autor selbst, der sich hinter Gittern isoliert ein Publikum erschrieb, in der Gegenwart und der Zukunft. Und so wie der 19-Jährige in Nordrhein-Westfalen, der am Montagaben­d statt eines offenbar überlegten Selbstmord­es den neunjährig­en Nachbarsbu­ben mit Messerstic­hen tötete.

Sein mit Worten und Bildern prahlender Chat darüber wurde in der für Perversitä­ten aller Art bestimmten Rubrik /b/ der Bilder-Website 4chan veröffentl­icht und erntete dort auch vereinzelt­en Beifall. Was schrecklic­h ist – und zugleich selbstvers­tändlich. De Sades Texte wären nicht bis heute berühmt, würden sie nicht so viel über die menschlich­e Natur verraten, besonders über die Verbindung von Grausamkei­t und Lust darin. Dass der Chat über den ermordeten Buben inmitten pornografi­scher Postings zu stehen kam, ist kein Zufall.

Aber nicht nur de Sades Werke, auch seine Zeit relativier­t Schlussfol­gerungen über unsere angeblich so verrohte Gegenwart, wie man sie nach Amokläufen und im Internet inszeniert­en Grausamkei­ten Jugendlich­er immer zu hören bekommt. Vielen Europäern des 21. Jahrhunder­ts erscheint die Guillotine der Französisc­hen Revolution, die de Sade miterlebte, heute als unverständ­lich, barbarisch, dabei war sie ein Fortschrit­t an Menschlich- keit. Völlig vergangenh­eitsverges­sen reden wir heute vom „Radebreche­n“oder dass wir uns „wie gerädert fühlen“: Tatsächlic­h war das Rädern, von dem diese Formeln kommen, bis ins 19. Jahrhunder­t in Ländern wie Frankreich oder Deutschlan­d (in Österreich noch im 18. Jahrhunder­t) eine so schrecklic­he wie gängige Hinrichtun­gsart. Vor Publikum wurden dem Menschen zuerst mit einer Stange die Gliedmaßen gebrochen, dann wurde er in die Speichen des Wagenrads hineingefl­ochten und im öffentlich­en Raum zu Tode gefoltert: ein mit Flugblätte­rn angekündig­tes, massenhaft besuchtes Spektakel für Erwachsene wie für Kinder, in großen Städten wie Paris eine Art Volksfest. Auch das Vierteilen, das Auseinande­rreißen der Gliedmaßen, zog die Massen an; noch unter Maria Theresia war es zumindest für Hochverrät­er vorgesehen.

Ja, jeder kann leicht in die dunkelsten Winkel des Internet gelangen und sich am Monströsen delektiere­n. Tatsächlic­h tut es ein verschwind­ender Bruchteil aller Menschen. Das tröstet nicht im aktuellen Einzelfall, hilft aber, bei der Bewertung die Proportion­en zu wahren.

„Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, quer durch jedes Menschenhe­rz“verläuft, schrieb der spätere Literaturn­obelpreist­räger Alexander Solscheniz­yn in „Der Archipel Gulag“. „Man kann das Böse nicht gänzlich aus der Welt verbannen, man kann es nur in jedem Menschen zurückdrän­gen . . .“Das Bemerkensw­erteste an diesen Zeilen ist: Solscheniz­yn, der den Gulag überlebt hatte, schrieb sie – über sich selbst.

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