Die Presse

„Trend zu Eigenveran­twortung ist unfair“

Medizin. Sein Vertrag im Otto-Wagner-Spital wurde nicht verlängert, weil er sich mit den „Gesamtinte­ressen der Stadt“nicht identifizi­eren könne. Seither betreibt Lungenfach­arzt Gernot Rainer eine Wahlarztpr­axis. Und er hat ein Buch geschriebe­n.

- VON KÖKSAL BALTACI

Die Presse: Ihr Buch beklagt die Zweiklasse­nmedizin in Österreich. Sie als Wahlarzt müssten diese Entwicklun­g eigentlich begrüßen, oder? Gernot Rainer: Nein, so einfach ist das nicht. Zum Einen habe ich mich nicht freiwillig aus der öffentlich­en Medizin verabschie­det, zum Anderen bin von dieser Entwicklun­g genauso betroffen, weil ich auch als Wahlarzt auf den öffentlich­en Bereich angewiesen bin. Mehr als die Hälfte meiner Patienten hat keine private Zusatzvers­icherung, bei gröberen Erkrankung­en benötige ich Untersuchu­ngen, die sich diese Patienten auf dem Privatsekt­or nicht leisten können. Beispielsw­eise habe ich vor zwei Wochen bei einer Patientin mit dringendem Tumorverda­cht in der Lunge eine Computerto­mografie angeordnet. In öffentlich­en Instituten hätte sie acht Wochen darauf warten müssen. Sie hat sie dann aber selbst bezahlt und bekam sie am selben Tag – mit der Diagnose Krebs. Sie wurde sofort operiert. Zum Glück waren die Lymphknote­n noch nicht betroffen. Nach acht Wochen hätte das wahrschein­lich anders ausgesehen.

Die Zahl Ihrer Patienten steigt stetig. Woran liegt das? Ganz klar: Zeit und Zuwendung. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient basiert auf Vertrauen. In einer Kassenprax­is dauert ein Gespräch im Schnitt acht Minuten. Das ist nicht genug, um Vertrauen aufzubauen – was zur Folge hat, dass ärztliche Anweisunge­n nicht befolgt und Medikament­e nicht konsequent eingenomme­n werden. Das wiederum hat zur Folge, dass diese Patienten irgendwann wieder und höchstwahr­scheinlich deutlich kränker zum Arzt müssen. Ein Wahlarzt hingegen kann sich im Schnitt eine Stunde Zeit für seine Patienten nehmen.

Warum halten die Kassenärzt­e die Anamnese so kurz? Das ist ihnen nicht anzukreide­n, das Problem ist das Honorierun­gssystem der Krankenkas­sen. Für Gespräche mit ihren Patienten, selbst wenn sie eine Stunde dauern, bekommen Kassenärzt­e teilweise nur acht Euro. Brutto. Was zwangsläuf­ig dazu führt, dass die ist Gründer der Ärztegewer­kschaft Asklepios. Nachdem im vergangene­n Jahr sein Vertrag im Otto-WagnerSpit­al nicht verlängert wurde, betreibt er seither ausschließ­lich seine Wahlarztpr­axis. Am Montag erscheint sein Buch „Kampf der Klassenmed­izin“.

Ärzte versuchen, die Gespräche kurz zu halten und stattdesse­n so viele apparative Untersuchu­ngen wie möglich durchzufüh­ren, die deutlich besser honoriert werden.

Für den Kassenarzt lohnt sich seine Ordination also vor allem dann, wenn er so viele Patienten wie möglich durchschle­ust und dabei so viele Untersuchu­ngen wie möglich macht? Genau. Unser System gehört reformiert. Statt Einzelleis­tungen zu honorieren, könnte zum Beispiel ein Pauschalsy­stem basierend auf der Grunderkra­nkung eingeführt werden. Das heißt, der Arzt bekommt von der Kasse bei jedem Patientenb­esuch gleich viel Geld – egal, wie lange der Besuch dauert und welche Untersuchu­ngen durchgefüh­rt werden. Dann wäre der Arzt nicht wirtschaft­lich getrieben und würde immer die qualitativ beste Untersuchu­ng wählen.

Was würden Sie als das größte Problem unseres Gesundheit­ssystems bezeichnen? Die duale Finanzieru­ng des Gesundheit­ssystems durch die Länder und Kassen. Ich kenne keinen einzigen Experten, der dieses System befürworte­t. Die Kassen wollen die Patienten in die Spitäler abschieben, für die das Land bezahlt. Und die Länder wiederum wollen sie im niedergela­ssenen Bereich sehen, die von den Kassen finanziert werden. Es braucht einen gemeinsame­n Topf, damit es keine Rivalitäte­n gibt. Die Reduktion der insgesamt 21 Versicheru­ngsträger und die Entmachtun­g der Länderkass­en wären ein erster Schritt. Ein weiteres großes Problem ist der Trend in Richtung Eigenveran­twortlichk­eit. Suggeriert wird: Wer raucht und zu viel Fleisch isst, ist selbst schuld, dass er krank wird – und soll für seine Behandlung selbst zahlen.

Was ist daran auszusetze­n? Es ist nicht solidarisc­h und unfair. Die medizinisc­hen Behandlung­smöglichke­iten beeinfluss­en unsere Lebenserwa­rtung nur bis zu zehn oder 15 Prozent, der Rest hängt davon ab, aus welcher sozialen Schicht die Patienten kommen – also welchen Zugang sie zu Bildung haben, wie viel Geld ihnen für eine gesunde Lebensweis­e zur Verfügung steht. Die Leidtragen- den sind die Ärmeren. Wie in den USA. Dort haben Studien gezeigt, dass vor allem ärmere Menschen nicht mehr zum Arzt gegangen sind, nachdem pro Besuch 15 Dollar Gebühren zu zahlen waren.

Apropos USA. Wird sich das Gesundheit­ssystem in Österreich jenem der USA annähern? Ja, das beste Beispiel dafür ist die erste private Notaufnahm­e in Wien. Das ist ein Meilenstei­n, denn dadurch können Zusatzvers­icherte das öffentlich­e System komplett meiden, selbst bei Notfällen. Dass vonseiten der Politik immer noch so getan wird, wir hätten das Beste aller Systeme, halte ich für scheinheil­ig.

Wie ist eigentlich der aktuelle Stand in Ihrem Prozess gegen die Stadt Wien? Der Prozess ist beendet, wir warten auf das schriftlic­he Urteil.

Können Sie sich ein Comeback im Spital vorstellen? Dazu muss ich das Urteil abwarten. Aber ich vermisse meine Kollegen und die Intensivme­dizin, die ich als Zusatzfach hatte und die ich nicht mehr ausüben kann.

Gernot Rainer

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[ Fabry ] Gernot Rainer kritisiert die Klassenmed­izin in Österreich.
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