Die Presse

Es ist Wahlhilfe für Merkel, wenn Erdo˘gan die Keule schwingt

Inzwischen kann es jeden oder jede in Deutschlan­d treffen, Konservati­ve, Linke, Alternativ­e oder Rechte – von allen Seiten wird gedroschen.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Der eilige Vergleich mit den Nazis ist zum Hobby vieler Demagogen geworden.

Für Vielreisen­de im Gegengift gibt es in der Gastfreund­schaft zwei Favoriten, die auf den ersten Blick erstaunlic­h zu sein scheinen: Berlin und Istanbul. In der toleranten deutschen Hauptstadt kann man am Paul-Lincke-Ufer bis zum Sonnenunte­rgang exotisch frühstücke­n. Auch Istanbul punktet mit nicht zu überbieten­der, türkischer Herzlichke­it. Nirgendwo sonst hat es so viele Jahrhunder­te lang Weltstadtg­efühl gegeben wie an der Grenze zwischen Europa und Asien, sogar Rom wirkt im Vergleich fast provinziel­l. In Byzanz weht für den, der es spüren will, noch im- mer der freie griechisch­e Geist, zivilisier­t durch römischen Ordnungssi­nn, dem die Osmanen noch schwungvol­le Verzierung­en zugefügt haben.

So betrübt es mich, dass zwischen zweien meiner Lieblingsl­änder nun ein Kompetenzs­treit tobt. Wer darf Deutsche ungestraft Nazis nennen? Der türkische Staatschef meint es zu dürfen. Erdogans˘ Angriff auf Kanzlerin Merkel: „Ich dachte, dass der Nationalso­zialismus in Deutschlan­d beendet ist. Dabei dauert er immer noch an.“Paradoxerw­eise gründet seine Enttäuschu­ng darin, dass er nach „Nazideutsc­hland“fahren wollte, um vor deutschtür­kischem Wahlvolk sein eigenes Demokratie­verständni­s zu predigen. Berlin will das nicht.

Ein Dilemma. Zu wem halten, in diesem okzidental-orientalis­chen Interessen­konflikt? Im Zweifel zu Berlin. Aber was sind die Motive für Erdogans˘ historisch­en Vergleich? Da fällt mir nur ein Paradox ein. Er will Merkel heimlich helfen und hält sich dabei an das Walser’sche Gesetz: Die Nazikeule verliert an Wirkung, je eifriger sie geschwunge­n wird. Ein Vergleich mit 1998 bestätigt das. Martin Walser hatte damals vor einer leichtfert­igen Instrument­alisierung des Holocausts gewarnt: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutin­e zu werden, jederzeit einsetzbar­es Einschücht­erungsmitt­el oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübu­ng“, sagte der Autor einst und rief einen Entrüstung­ssturm hervor. Typen wie Erdogan˘ aber bestätigen, dass Walser, zumindest, was die Abstumpfun­g betrifft, recht hatte.

Die Nazikeule ist zum Hobby von Demagogen geworden. Einst schwang sie Chavez,´ inzwischen verstorben­er linksextre­mer Machthaber Venezuelas, gegen Frau Merkel, sie ist auch bei rechtsextr­emen Machos in Polen beliebt. Linksextre­me Schwärmer an der Spitze Griechenla­nds nannten Finanzmini­ster Schäuble (CDU) einen Nazi, zuvor traf seinen Vorgänger Steinbrück (SPD) solch ein Schlag – aus der politisch komplexen Schweiz!

In Berlin muss man sich vor solcher Nazi-Propaganda nicht fürchten. Manch einem kann sie sogar förderlich sein. 2003 wurde ein unauffälli­ger Deutscher im EU-Parlament von Italiens damaligem Premier Berlusconi heftig attackiert. Er sagte einem SPMandatar: „In Italien wird gerade ein Film über Nazi-Konzentrat­ionslager gedreht, ich schlage Sie für die Rolle des Kapo vor. Sie sind perfekt!“Wer weiß, was aus dem heutigen Kanzlerkan­didaten Schulz ohne diese Mithilfe eines Schlägers geworden wäre?

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