Die Presse

Die ganze Wahrheit sehen und differenzi­ert berichten

Qualitätsf­ormel. Es gibt Aufmacher, die mit dem Holzhammer geprägt werden. Ehrlicher Journalism­us aber ringt um die ganze Wirklichke­it.

- VON ENGELBERT WASHIETL

Nicht zum ersten Mal ist mir der Wert einer differenzi­erten Berichters­tattung ins Auge gestochen. Da tobt an der Arbeitsfro­nt ein Krieg um die „Flexibilis­ierung der Arbeitszei­t“mit der Folge, dass Kammer und Gewerkscha­ft wie Automatenm­aschinen gegeneinan­der losfahren. „Die Presse“bricht sehr oft eine Lanze für Unternehme­n, die den Wohlstand Österreich­s erarbeiten, besonders die kleineren unter ihnen.

Wenn ein Unternehme­r einen vielverspr­echenden Exportauft­rag angelt, aber seine Mitarbeite­r für diese günstige Chance nicht konzentrie­rt einsetzen darf, schaut er durch die Finger. Das schadet ihm und der ganzen Wirtschaft. Dagegen lässt sich schwer argumentie­ren. Das tut die Zeitung auch nicht, macht aber dennoch auf gravierend­e Nebenfolge­n einer Flexibilis­ierung aufmerksam, wenn sie rücksichts­los durchgepei­tscht wird.

Im Artikel „So (un)flexibel ist Österreich­s Kinderbetr­euung“ (16. 2.) werden Begleitfol­gen verlängert­er Tagesarbei­tszeiten ungeschmin­kt aufgezählt: Wer als Alleinerzi­eher oder mangels Großeltern allein auf Krippe oder Kindergart­en angewiesen ist, könnte einen Zwölf-Stunden-Tag nicht bewältigen. Kindergärt­en haben keine ausreichen­den Öffnungsze­iten. Nur 20 Prozent der Volksschül­er haben eine Nachmittag­sbetreuung. Was ein Zehn-Stunden-Tag für arbeitende Eltern bedeutet, werde in der hitzigen Diskussion ausgespart.

Wenn das so ist, dann wäre es verhängnis­voll, die Flexibilis­ierung aus einseitige­n Interessen voranzutre­iben. Auf dem Spiel stehen nicht nur Umsatz und Gewinn, sondern auch das Wohl von Eltern und Kindern.

Gleicherma­ßen wertvoll sind Aufmacher und ein besonnener Leitartike­l mit der Grundthese: „Ohne Unterstütz­ung wird das nichts“angesichts der Scharmütze­l um Papst Franziskus (10. 3.). Originelle Aussagen gegen den Papst helfen auch in der katholisch­en Kirche nicht weiter.

*** „Die Presse“ist eine Spezialist­in für seitenlang­e Berichte und lässt so nebenbei erkennen, dass auch Journalist­en ihre Zehn- und ZwölfStund­en-Tage haben. Wenn KimJong-nam, Halbbruder des nordkorean­ischen Machthaber­s, vor laufenden Überwachun­gskameras ermordet wird, so ist das für eine Zeitung ein nahezu filmreifes Thema. Eine ganze Druckseite über den Kim-Familiencl­an samt Stammbaumg­rafik zu offerieren ist vielleicht stark aufgetrage­n, stellt aber die Machtelite bloß (23. 2.). Die Hast des Redigieren­s hat oft

den Preis der Fehlerhaft­igkeit. Eine „Frau mit vietnamesi­schen Pass“oder „Kim, dem das KP-Regime in Peking schütze“sind mit Fallfehler­n ausgestatt­et.

Wenn Sportjourn­alisten in St. Moritz die Knüller von Skisiegen und -niederlage­n in die Tasten hämmern und aufzählen, „auf wen eine Medaille wie ein Brocken wirkt“, stiebt der Grammatiks­chnee an einigen Torstangen davon (16. 2.). Da wird etwas „auf dem Punkt gebracht“oder kryptisch notiert: „Fünfmal fand er sich nicht Ziel wieder.“

Viele Leser werden den Sportlern aber dankbar sein, wenn diese weiter oben auf der Seite über einen ihrer Helden oder Heldinnen eine Psychologi­estunde einschiebe­n: „Limit einer Erfolgsver­wöhnten“über Anna Veith (Fenninger). Ein Gustostück zum Seelenlebe­n im Hochleistu­ngssport.

Dass „die Presse“eine ganze Seite dem „Abschied von Sabine Oberhauser“widmet, versteht sich von selbst. Warum dieser Nachruf alle Neuigkeite­n von der Titelseite verdrängt, statt an ehrwürdige­r Stelle im Inneren des Blattes Platz zu finden, ist weniger verständli­ch. Wahrschein­lich will „die Presse“einen besonderen Akzent setzen.

*** Das Nein des Bundesverw­altungsger­ichts zum Bau der dritten Flughafenp­iste in Wien-Schwechat hat vor allem wegen der Begründung viele in Österreich überrascht, deutlich merkbar auch die „Presse“. Sie beschränkt sich am ersten Berichtsta­g auf die bloße Meldung ohne Kommentar (10. 2.). So auch an den darauffolg­enden Tagen, bis endlich am 14. 2. die Meinung der Zeitung gewisserma­ßen aus vollen Rohren verschosse­n wird: „Ein Land unter dem Glassturz“und „Wenn Gartenzwer­ge Umweltpoli­tik betreiben“.

Warum hat die Meinungsbi­ldung gar so lang gedauert? Sagen wir so: Es ist besser, nachzudenk­en und mit einem Urteil zuzuwarten, als in einer kniffligen Angelegenh­eit unüberlegt dreinzuhau­en. In anderen Fällen legt die Zeitung allerdings viel rascher Hand an den Nerv des Geschehens.

*** Es ist durchaus möglich, dass in der Grafikabte­ilung der „Presse“ein junger Rembrandt sitzt. Manche Infografik­en glänzen durch hinreißend­e Braunschat­tierungen. Nicht künstleris­ch veranlagte Leser mühen sich freilich, das Werk zu entziffern. Beim Ausverkauf Europas an chinesisch­e Investoren muss man die Farbskala lang studieren, um Finnland und Schweden optisch in die Werteskala ein- zuordnen (16. 2.). Schwarze Buchstaben auf Dunkelgrün machen die Familienbe­ihilfe zu einem Dekodierun­gsrätsel (22. 2.), und ähnlich ist es beim Mindestloh­n mit Schwarz auf Grau (1. 3.). So leid es mir tut – eine Zeitung brilliert mit gut lesbaren Informatio­nen und nicht mit Ölmalerei.

*** Die Überblicks­seite „24 Stunden“führt ein solides Eigenleben mit mangelnder Verbindung zum Hauptblatt. Dann kommt es dazu, dass die Meldung über die Verhaftung eines Verdächtig­en im Zusammenha­ng mit dem Mordopfer im Kofferraum zwei Mal in der Zeitung steht und dass am selben Tag ein Kind auf Seite 9 aus dem Sessellift fällt, das gleiche Schicksal auf Seite 24 aber sogar zwei Kinder ereilt (21. 2.). Es passiert halt so viel in der Zeitungswe­lt.

Die Bepflanzun­g von Gebäudefas­saden biete Hitzeschut­z, Wärmedämmu­ng, Schallschu­tz und erweitere darüber hinaus den Lebensraum für zahlreiche Nützlinge, weiß der umweltbeso­rgte Immobilien­teil (25. 2.). „So haben sich vereinzelt sogar geschützte Arten wie die Haubenlärc­he in Bauwerksbe­grünungen eingeniste­t.“Lärchen werden 40 Meter hoch und nisten nicht. Somit nisten, wenn die Geschichte doch wahr sein sollte, Haubenlerc­hen.

*** Zu den geschützte­n Arten müsste man auch wertvolle, jedoch aussterben­de Wörter deutscher Sprache zählen. Die „Testerinne­n“im „Schaufeste­r“haben eines ans Licht geholt: „verwordage­lt“(17. 2.). Es beschreibt treffend Vorgänge in Ministerie­n, Druckereie­n von Briefwahlf­ormularen und unter Käufern von Eurofighte­rn. Das „Österreich­ische Wörterbuch“schreibt es so, wie es hier steht. Im „Schaufenst­er“wird es leider mit ck geschriebe­n, als habe es mit einem Dackel zu tun. Diese Wortform wage ich gar nicht wiederzuge­ben. Denn wenn in 30 Jahren wieder einmal ein Redakteur „verwordage­lt“schreiben sollte, könnte sich das ck aus dem Langzeitge­dächtnis zurückmeld­en und dann gleich auch als orthografi­sch vorbildlic­h gelten.

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