Wie die Wiener schimpfen und fluchen
Germanistik. Frauen kränkt, wer ihr Aussehen beleidigt. Männer vertragen es nicht, wenn ihre Leistungskraft in Frage gestellt wird. Meist lästern die Wiener aber ohnehin, um Dampf abzulassen – und nicht, um andere zu erniedrigen.
Die Frage, warum sie sich mit verbaler Aggression beschäftigt, bekommt Oksana Havryliv oft gestellt. Flucht sie selbst so viel? Oder wurde sie als Kind häufig beschimpft? Beide Annahmen sind falsch, stellt sie klar. Die aus dem ukrainischen Lwiw (deutsch: Lemberg) stammende Germanistin wollte sich lediglich mit einem Bereich wenig erforschter lebender Sprache befassen. Und landete nach einem Scherz von Kollegen, die meinten, da blieben wohl nur noch die Schimpfworte, bei ebendiesen.
Das war vor rund 20 Jahren. Mittlerweile lebt sie in Wien und hat eben das zweite, vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Forschungsprojekt abgeschlossen. Erforscht wurde jeweils die verbale Aggression von Wienern.
Damals wie heute befragte sie 36 Wienerinnen und Wiener unterschiedlicher Bildungsschichten: ohne oder mit Matura sowie mit Hochschulabschluss. „Die Jüngsten waren 13-jährige Schüler, die Ältesten Senioren im hohen Alter“, berichtet die Forscherin. Einige Interviews dauerten eine Stunde, andere bis zu drei Stunden. „Manche hatten einfach viel zu erzählen“, sagt Havryliv.
Frauen lästern über Dritte
Mimik und Gestik vermerkte sie ebenfalls in ihren Gesprächsprotokollen. Diktiergerät verwendete sie keines: „Das hemmt die Menschen, gerade wenn es um Konflikte geht.“Zusätzlich führte sie insgesamt 300 schriftliche Umfragen durch. Darin bat sie die Teilnehmer zu vermerken, wie sie schimpfen und welche Funktionen das Schimpfen für sie hat.
Wie schon vor zehn Jahren stand dabei das Abbauen negativer Emotionen im Vordergrund. Die Ventilfunktion des Schimpfens als Motiv stieg sogar von 64 Prozent auf 73 Prozent in der aktuellen Befragung. Der scherzhafte Gebrauch von Flüchen und Ähnlichem sank hingegen von 25 Prozent auf 16 Prozent. „Der Wiener Schmäh ist immer eine Gratwanderung zwi- schen Scherzen und Schimpfen“, meint Havryliv. Man lasse sich offenbar mittlerweile etwas weniger zu solchen mitunter zwiespältigen Witzen hinreißen, mutmaßt sie. Mit elf Prozent lag das Ansinnen, den Adressaten zu beleidigen, heute wie damals erst an dritter Stelle.
Die Forscherin kennt insgesamt 20 Funktionen von Schimpfen. „Es kann auch tröstend sein, etwa, wenn ich den Chef vor einer Kollegin beschimpfe, weil er sie beleidigt hat“, sagt sie. Wobei die Geschlechter beim Beleidigen unter- schiedliche Strategien an den Tag legen: Frauen schimpfen zu 77 Prozent indirekt, also über Dritte, nicht Anwesende und deponieren nur 23 Prozent ihres Ärgers direkt. Bei Männern dreht sich das Verhältnis fast um: Sie eruptieren zu 63 Prozent direkt und deponieren nur 37 Prozent ihres Ärgers indirekt.
Berücksichtigt man das Bildungsniveau, zeigt sich die Tendenz zum Verstecken verbaler Aggression allerdings nur bei Frauen ohne Matura. Bei höherer Bildung schimpfen Frauen und Männer gleich direkt.
Leck mich! Fuck you!
Deutliche Unterschiede gibt es aktuell beim Alter. Jüngere schimpfen nicht nur mehr, ihr Wortschatz ist auch breiter als der der älteren Generation. Havryliv nennt vier unterschiedliche Schimpfkulturen, die sich in der täglichen Sprache freilich vermischen: Österreicher und Deutsche würden eher zum fäkalen Schimpfen neigen („Leck mich doch am A.“). Russen, Serben oder Briten greifen auf sexuelle Anspielungen zurück, wenn es derb wird („Fuck you!“). Italiener und Spanier wiederum greifen in der Emotion eher zu Gotteslästerung, „porca madonna“bedeutet beispielsweise „verdammte Madonna“. Und im Nahen Osten, in der Türkei oder den USA trifft man das Gegenüber, indem man seine Mutter beleidigt: etwa, indem man behauptet, man habe sie in einem Bordell gesehen.
Bei den Wienern bleibt das „Arschloch“– wie schon vor zehn Jahren – vor dem „Trottel“und dem „Depperten“nach wie vor das beliebteste Schimpfwort. „Im Konflikt hat man keine Zeit, neue Worte zu finden und greift auf Bewährtes zurück“, erklärt Havryliv. Je kürzer die Flüche und Beschimpfungen sind, desto besser.
Und wie reagieren die Menschen, wenn sie sich mit verbaler Aggression konfrontiert sehen? Das unterscheidet sich nach Inhalt und Geschlecht: Frauen seien besonders beleidigt, wenn es um ihr Aussehen geht. Bei Männern schnellt der Puls vor allem in die Höhe, wenn jemand ihre Leistungskraft – ob beruflich oder sexuell – in Zweifel zieht.
Weil unbedachtes Fluchen andere kränken kann, veranstaltet die Forscherin in Schulen Workshops zu gewaltfreier Kommunikation. „Oft ist den Jugendlichen die Bedeutung des Gesagten gar nicht bewusst, wenn sie jemanden etwa als ,behindert‘ beschimpfen“, sagt sie. Macht man sie darauf aufmerksam, werden sie nachdenklich. Schließlich wollten sich die meisten nur abreagieren oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe demonstrieren. Oder Kontakt zu anderen aufnehmen.
Immerhin fragte schon Mark Twains Romanfigur Tom Sawyer einen anderen Buben zur Begrüßung, ob er ihn hauen solle. Die Jugendlichen heute sagen einfach: „Wos wüst, Oida?“