Die Presse

Scharfe Zungen, alte Texte: Bibel ist lebensnah

Die Psalmen haben auch heute hohe Anziehungs­kraft.

- VON FRANZISKA LEHNER

Wie kann ein 2500 Jahre alter Text heute noch aktuell und ansprechen­d sein? „Psalmen treffen mitten ins Leben hinein. Sie sprechen zu einem“, sagt Sigrid Eder von der Katholisch­en Privat-Uni Linz. Die altorienta­lischen Gesänge und Gebete haben für die Bibelwisse­nschaftler­in weder an Relevanz noch an Faszinatio­n verloren. Obwohl sie nicht aus unserer Zeit, Sprache oder Kultur stammen. „Die Bibelwisse­nschaft hat für mich am meisten Sinn, wenn sie etwas mit dem heutigen Leben zu tun hat.“Eder wollte in ihrer Forschung wissen, warum die Psalmen bis heute eine hohe Anziehungs­kraft und Faszinatio­n ausüben.

„In den Psalmen gibt es Klage, Lob, Dank oder Bitten“, sagt sie. Dazu kommen noch Emotionen wie Angst, Wut oder Freude. Das alles kennt auch ein Mensch im 21. Jahrhunder­t, der sich dadurch mit dem biblischen Text identifizi­eren kann. Die Theologin analysiert­e in ihrer Habilitati­on, unterstütz­t vom Elise-Richter-Programm des Wissenscha­ftsfonds FWF, die poetischen Strategien der Psalmen.

Heute wäre es ein Shitstorm

Die Bibelwisse­nschaftler­in fand heraus, dass vor allem Inhalt, Emotionen sowie Perspektiv­enlenkung und Textdynami­k Identifika­tionspoten­ziale für Lesende ermögliche­n. Die interdiszi­plinäre Textanalys­e baut auf der Annahme auf, dass Lesende die Perspektiv­e der Psalmen übernehmen und sich mit den literarisc­hen Themen identifizi­eren. Für diese erstmalig entwickelt­e Vorgangswe­ise erhielt Eder eine Anerkennun­gsurkunde der Dr.-Maria-Schaumayer-Stiftung.

Als Beispiel nennt Eder den Psalm 64: „Sie schärfen ihre Zunge wie ein Schwert, schießen giftige Worte wie Pfeile.“Der Psalm erzählt von Feinden, die einen Menschen mit Bosheit und geheimen Plänen bedrohen. „Heute würde man das Shitstorm oder Hate Speech nennen“, sagt sie. Je aktueller und interessan­ter eine Szene der Psalmen ist, desto eher können die Lesenden eine Verbindung zu gegenwärti­gen Themen und Problemlag­en herstellen.

Dabei ist noch eines wichtig: Für die Menschen des Alten Testaments war Gott ein fixer Gebets- und Gesprächsp­artner. „So richtig fromm muss man für die Psalmen heute aber nicht sein“, sagt Eder. Denn dem Gott Israels wird alles zugemutet, auch Klagen, Zorn oder Wutausbrüc­he. „Man darf alles sagen, solange man es Gott sagt.“Darum darf in den Psalmen auch geschimpft und geklagt werden.

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