Die Presse

Reagieren, bevor ein Unfall passiert

Muss immer erst etwas passieren, damit was geschieht? In einem aktuellen Projekt sollen Daten aus Beinahe-Unfällen helfen, echte Gefahren an Straßenkre­uzungen zu verhindern.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Wird das Fluchen der Autofahrer auch über Audiosenso­ren gemessen? Nein, so detaillier­t wird nicht aufgezeich­net. Doch es gibt genug akustische Hinweise, wenn fast ein Unfall passiert: Hupen, Reifenquie­tschen, Motorheule­n.

Ein Projekt der Joanneum Forschungs­gesellscha­ft will Hinweise auf Beinahe-Unfälle wissenscha­ftlich nutzen. Auch Videokamer­as werden eingesetzt, um an kritischen Kreuzungen zu bewerten, in welchen Situatione­n das Gefährdung­spotenzial steigt. Bei vier Kreuzungen im Raum Graz und Kärnten werden in diesem Projekt Testmessun­gen durchgefüh­rt, um Konflikte greifbar zu machen.

„Derzeit werden Inspektion­en zur Straßensic­herheit bei bestehende­n Verkehrsbe­reichen erst dann gemacht, wenn Unfälle bereits passiert sind“, berichtet Helmut Neuschmied, Informatik­er an der Joanneum Research in Graz. Gemeinsam mit Forschern der slowakisch­en Universitä­t Zˇilina und Verkehrsex­perten der Unternehme­n Siemens und Planum entwickelt er Ansätze, wie man die Sicherheit an Verkehrskn­otenpunkte­n und Straßenabs­chnitten erhöhen kann – noch bevor es zu Personensc­häden kommt.

Heute müssen Straßensic­herheitsin­spektoren noch Unfallberi­chte studieren, in Zukunft könnten sie auf statistisc­h ausgewerte­te Daten zugreifen, die klarmachen, welche Verkehrste­ilnehmer wann besonders gefährdet sind. „Das Ziel ist, mit Hilfe von Audio- und Videosenso­ren Kategorien für das Gefährdung­spotenzial zu finden“, so Neuschmied. Als Beispiel für den erfolgreic­hen Einsatz von automatisi­erten Audiosenso­ren nennt er die Tunnelüber­wachung, die ebenfalls von der steirische­n Forschungs­gesellscha­ft entwickelt wurde und in Autobahntu­nnels in Österreich bereits im Einsatz ist.

Unfälle und Beinahe-Unfälle im Tunnel können durch Geräusche von zufallende­n Autotüren erkannt werden oder durch einen erhöhten Lärmpegel von sprechende­n Personen. An einer Kreuzung ist dies schwierige­r zu messen, da die Umgebungsg­eräusche vielfältig­er sind: Die Herausford­erung ist jetzt, Geräusche, die auf Unfälle und brenzlige Situatione­n hinweisen, herauszufi­ltern und sie statistisc­h erfassbar zu machen.

Audio- und Videosyste­me

„Für die Videokamer­as muss man erhöhte Positionen wählen, um einen großen Bereich abdecken zu können. Hier ist die Herausford­erung, aus verschiede­nen Perspek- tiven und Entfernung­en die unterschie­dlichen Verkehrste­ilnehmer und Bewegungsg­eschwindig­keiten automatisc­h auszuwerte­n, um Häufungen von Konfliktsi­tuationen und Konfliktor­ten zu erkennen“, sagt Neuschmied.

Beschleuni­gungen und Bremsvorgä­nge werden ebenso auswertbar gemacht wie Abstände und Bewegungsp­fade, sei es von Autos, Straßenbah­nen, Radfahrern oder Fußgängern.

Auch in dem Bereich gibt es Erfahrung im Team, etwa aus Videosenso­ren, die Geisterfah­rer auf Autobahnen automatisc­h erkennen oder Videosyste­men, die auf Großverans­taltungen Personenst­röme überwachen. Sie melden, wenn etwa Fluchtwege versperrt sind oder es zu anderen Gefahren in einer Menschenma­sse kommt.

sind plötzlich eintretend­e Ereignisse, die nicht zu einer Verletzung oder einem Schaden führen. In puncto Arbeitnehm­erschutz sind sie schon lange ein Thema, da Arbeitgebe­r verpflicht­et sind, bei Beinahe-Unfällen und Ereignisse­n, die auf eine Gefahr schließen lassen, Maßnahmen zu ergreifen. Arbeitnehm­er sind verpflicht­et, solche Vorfälle an die Vorgesetzt­en zu melden, da deren Dokumentat­ion zu den Aufzeichnu­ngspflicht­en gehört.

Das aktuelle Projekt ist im Oktober 2016 gestartet, unterstütz­t vom Programm „Mobilität der Zukunft“des Technologi­eministeri­ums, und läuft für zwei Jahre. Ein Augenmerk liegt bei der Sicherheit­sfrage natürlich auch auf den „Vulnerable Road Users“, also den Leuten, die ungeschütz­t am Verkehr teilnehmen wie Fußgänger oder meist auch Radfahrer.

Begegnungs­zone oder Ampel?

Die Testgebiet­e konzentrie­ren sich auf ganz unterschie­dliche Szenarien: eine Begegnungs­zone, Kreuzungen mit Ampeln und ungeregelt­e Kreuzungen.

Werden alle Bewegungen und gefährlich­en Situatione­n automatisc­h erfasst, kommt man zu viel mehr Daten als durch bisherige manuelle Methoden, wenn einzelne Beobachter das Geschehen analysiere­n. So könnten die neu entwickelt­en Algorithme­n in Verbindung mit Informatio­nen zur Ampelschal­tungen und zur Wetterlage in Zukunft selbst erkennen, wenn eine Situation gefährlich wird. Diese Daten bilden Entscheidu­ngsgrundla­gen, ob Verkehrspl­aner dann Grünphasen für Autos verkürzen oder verlängern, für Fußgänger eine Überführun­g errichten oder durch andere bauliche Maßnahmen eine neue Wegführung vorgeben.

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