Warum wir so verbittert sind
Egal, wohin man kommt: merkwürdiger Grimm, rasch hochschießender Zorn, dauernde Erregungsbereitschaft. Interessante Zeiten, könnte man sagen. Eine europäische Korrespondenz.
Das „Netzwerk der Literaturhäuser“hat 28 europäische Schriftsteller verschiedener Nationalitäten ersucht, miteinander in „europäische Korrespondenzen“zu treten. So haben einander Autoren wie Ingo Schulze und Laszlo´ Györi, Kathrin Röggla und A. L. Kennedy im vorigen Jahr Briefe geschrieben, die nun unter dem Titel „Interessante Zeiten, könnte man sagen“im Wallstein Verlag erschienen sind. Hier zwei der zehn Briefe, in denen Karl-Markus Gauß und Dzevadˇ Karahasan ihre alte Freundschaft erneuern und sich über die Zeiten klar zu werden versuchen.
Salzburg, 1. August 2016
Lieber Dzevad,ˇ Dein letzter Brief mit den Zeilen über das Kaffeehaus beim Visegraderˇ Tor in Sarajewo hat mich daran erinnert, dass auch wir beide eine Zeit lang unsere zwei Kaffeehäuser hatten. Das eine hieß Cafe´ Europa, wir waren dort zwei- oder dreimal verabredet, als ich vor 16 Jahren in Deiner Stadt war, in diesem unerhört kalten Winter des Jahres 2000, in dem so viel Schnee gefallen und zu betonharten Klumpen vereist war, dass ich in den engen Gassen im Stadtteil Bjevali, in dem ich wohnte, auf den unter einer Mauer aus Schnee und Eis verborgenen Autos dahinstapfen und in die Fenster im Erdgeschoß blicken konnte. Das andere war das Cafe´ Mozart in der Getreidegasse, in dem wir uns in Deiner Salzburger Zeit immer trafen, Du erinnerst Dich, jenes mit spartanischem Charme möblierte Cafe´ im ersten Stock der am dichtesten bevölkerten Gasse von Salzburg, in dem außer uns oft nur die schweigend rauchenden Schachspieler zugegen waren. Dort hast Du mir einmal auf einem kleinen Zettel mit verschiedenen, ineinander verschränkten Kreisen die Struktur des Romans anschaulich gemacht, an dem Du gerade geschrieben hast, „Schahrijars Ring“.
Unser Cafe´ ist, bald nachdem Du aus Salzburg weggezogen bist, verkauft, gründlich renoviert und unter gleichem Namen, aber aus anderem Geist wiedereröffnet worden. Wo damals die Tische der Schachspieler standen und sich in meinem inneren Bild ewig der Rauch der Zigaretten kringelt, türmen sich jetzt in den Schaukästen der Theke die Cr`emeschnitten. Die Torten und Speisen sind ausgezeichnet, und die Kellnerinnen und Kellner brausen nicht mehr auf, wie ihre Vorgänger es taten, sondern bleiben stets auf professionell abgeklärte Weise höflich.
Das sind alles Entwicklungen, über die man nicht klagen soll, zumal sich im alten
Mozart die Kellnerin in ihren beigefarbenen Gesundheitsschuhen manchmal müde in die Küche verzog, von wo sie nur alle Zeiten ächzend nachschaute, ob die paar überständigen Gäste noch immer an ihren Marmortischchen saßen. Das Beste am alten Mozart war gerade das Mangelhafte: dass man dort nämlich als Gast schlichtweg vergessen werden konnte, sich selbst überlassen blieb und mitunter weder bedient noch genötigt wurde, etwas zu konsumieren. Eher schon benötigte man auf altösterreichische Weise Protektion, um zu seinem zweiten Espresso oder zweiten Glas Rotwein zu kommen. Das heutige Cafe´ wird gastronomisch in jederlei Hinsicht besser geführt, ich glaube aber nicht, dass wir uns dort die Struktur unserer nächsten Bücher aufzeichnen würden. – Im
Cafe´ Mozart haben wir über alles Mögliche und natürlich auch über Jugoslawien und über die Kriege gesprochen, die gerade geführt wurden, nur wenige Hundert Kilometer entfernt. Ich sehe Dich noch vor mir, lange nachdenkend und die Antwort überlegend, die Du auf meine Frage geben wolltest, wie sich der Untergang, nein, die Zerstörung Deiner Stadt hätte vermeiden lassen: „Wir alle hätten sie mehr lieben müssen.“
Mehr lieben, ja. Und genug Aufmerksamkeit besitzen, um nicht erst nachträglich draufzukommen, was man verlieren kann und entbehren wird! Die meisten meiner hiesigen Freunde halten die Belagerung Sarajewos für ein in Europa unwiederholbares Verbrechen, den Zerfall Jugoslawiens hingegen für eine unausweichliche historische Entwicklung. Mir erscheint beides jedoch als Menetekel auf die Geschichte Europas, als reale Möglichkeit, wie sich die Regionen, Nationen, Staaten und endlich die Europäische Union selbst entwickeln könnten.
Egal, wo ich in den vergangenen Jahren in Europa unterwegs bin und mit wem ich ins Reden komme, stets begegne ich einem merkwürdigen Grimm, einem rasch hochschießenden Zorn, als befänden wir uns in einer dauernden Erregungsbereitschaft. Was ich sie auch frage, wütend pflegen die Leute sofort alles niederzumachen, was sich in ihren Ländern und in der gemeinsamen Union ereignet. Von nichts als Verfall und Niedergang bekomme ich zu hören, die Politiker wären korrupt, egal, was sie verfechten, die Gebildeten arrogant, die Hilfsbereiten dumme Gutmenschen und jene in der Gesellschaft, denen es sichtbar am schlechtesten geht, allesamt nicht der Unterstützung bedürftig, sondern verachtenswerte Schmarotzer, die sich faul an unserem Gut bereichern und am Sozialstaat mästen.
Die Kritik ist laut und heftig, aber ziellos und völlig inkonsequent. Am vermeintlichen bürokratischen Monster Brüssel wird einmal kritisiert, dass es zu viel tue und sich reglementierend ins Leben jedes Einzelnen einmische, das nächste Mal, dass es zu wenig tue und die Dinge ihren schlechten Lauf nehmen lasse. Die einen werfen der Union geradezu geifernd vor, dass sie sich Rechte anmaße, die nicht ihr, sondern nur den nationalen Regierungen zustünden, die anderen werfen ihr vor, dass sie in der Flüchtlingsfrage keine gemeinsame Strategie für alle Staaten zuwege bringe.
Ja, wie sollte sie auch, wenn ihr jeder einzelne Staat das Recht verweigert, für ihn zu entscheiden? Am meisten ergrimmt mich, der ich inmitten des allgemeinen Zorns mitunter selbst in Rage gerate, dass gerade jene, die nicht müde werden, die Union zu schwächen, ihr schamlos just die von ihnen verursachte Schwäche vorzuhalten pflegen. Bei uns haben damit die charakterlosen Politiker der Freiheitlichen Partei angefangen, aber mittlerweile hat ihr
Das Geschrei gegen Brüssel erinnert an das Geschrei, das zu Ende der Existenz Jugoslawiens gegen Belgrad erhoben wurde.
Gerade jene, die nicht müde werden, die Union zu schwächen, pflegen ihr schamlos just die von ihnen verursachte Schwäche vorzuhalten.
schlechtes Beispiel opportunistische Schule gemacht.
Lieber Dzevad,ˇ Du weißt, dass ich kein Verklärer Österreichs oder der Europäischen Union bin, aber mittlerweile fühle ich mich tatsächlich verpflichtet, Österreich und die Union vor der zerstörerischen, der geradezu nekrophilen, in das Scheitern verliebten Abwertung in Schutz zu nehmen. Wenn man in Wien mit der Straßenbahn unterwegs ist, könnte man mitunter meinen, man würde durch eine sozial ruinierte, von Verbrechern regierte, von Flüchtlingsbanden terrorisierte Stadt fahren, in der es keine funktionierenden Spitäler, Schulen, Ämter, Kindergärten mehr gäbe: So jedenfalls geht die hitzige Rede vieler Fahrgäste. Und erst ein vernünftiges, abwägendes Gespräch über Europa zu führen ist bei uns nur mehr schwer möglich. Dabei gälte es doch, gerade jetzt, die Mängel und die Vorzüge dieser Vereinigung zu debattieren, über die Versäumnisse und die Chancen einer staatenübergreifenden Union zu sprechen, und dies, ohne die neoliberale Zuformung des europäischen Marktes zu verschweigen, aber auch ohne das dumme Lied von der heilen nationalen Welt von gestern anzustimmen.
Nichts davon. Es mangelt an beidem: an der Erinnerung, wie es gestern wirklich war, und an der Vorstellungskraft, wie es morgen in Wohl und Wehe sein könnte. Aber vor allem mangelt es an der Zuneigung, um nicht zu sagen: an der Liebe. Nicht an der Liebe zu einer abstrakten Größe oder einem staatsrechtlichen Gebilde, also um die Liebe zu Europa oder zur Union, sondern an der Zuneigung, die die Menschen für das, was sie selbst aufgebaut haben und mit ihrem Leben repräsentieren, empfinden sollten und nicht mehr empfinden, in Österreich und in ganz Europa. Statt auf Achtung und Selbstachtung setzen wir auf die große Missachtung, von uns selbst und von den anderen, von dem, was wir zuwege gebracht haben, und von dem, was wir zuwege bringen könnten. Das ist dumm, ungerecht und gefährlich.
Es grüßt Dich herzlich Dein Karl-Markus
Pula, im August 2016
Lieber Karl-Markus, es ist irritierend und doch legitim, dass Du das Hotel Evropa und sein Cafe´ erwähnst, in dem wir bei Deinem (leider einzigen! – bitte verstehe das als Vorwurf ) Aufenthalt in Sarajevo saßen. Irritierend, weil wir im Hotel Evropa nur einmal saßen, hingegen im
Morica´ Han zwei-, dreimal und im Aeroplan, denke ich, mindestens fünfmal. Und legitim ist es, weil man, wie mir scheint, nicht über Sarajevo sprechen kann, ohne das Hotel Evropa wenigstens zu erwähnen, ohne an das Hotel zu denken, das, wie ich einmal geschrieben habe, der symbolische Mittelpunkt Sarajevos ist, der wie ein optisches Prisma die zerstreuten Strahlen dessen sammelt, was Sarajevo ausmacht. Eröffnet kurz nach der österreichisch-ungarischen Okkupation Bosniens, so konzipiert, dass es in sich die orientalische Vergangenheit und die mitteleuropäische Gegenwart der Stadt, in der es erbaut wurde, vereinte, war das
Hotel Evropa für Generationen von Sarajevoern ein beliebtes Lokal und ein Ort, an dem man alle Veränderungen, die die Zeit ihrer Stadt brachte, wahrnehmen, erkennen und verstehen konnte. Das Hotel hatte zwei Cafes,´ die sich in allem deutlich voneinander unterschieden – ein orientalisches und ein mitteleuropäisches oder, wie wir es nannten, wienerisches. Beide hatten ihre Stammgäste und -gruppen, die sich am liebsten dort versammelten, aber die meisten Sarajevoer saßen manchmal im einen und manchmal im anderen.
Zum Wiener Cafe´ gehörte eine Konditorei mit „den besten Torten der Stadt, und zwar in der größten Auswahl südlich von Wien“, wie die Kellner behaupteten, die dort bedienten. Die Fenster, die auf die Vladislava-Skarica-´Straße sahen, waren mit durchsichtigen Gardinen verhangen, die der Gast zurückziehen konnte, wenn ihm ein Tisch am Fenster zufiel, und an beiden Seiten jedes Fensters hingen schwere Plüschvorhänge, tagsüber immer zurückgezogen, nachts manchmal zurückgezogen, manch- mal vorgezogen. Rechts, an den Fenstern, standen kleine Tische mit zwei, drei Stühlen, während der linke Teil mit größeren Tischen möbliert war, um die herum besondere Sofas mit Lehnen aufgebaut waren, sodass die Leute, die an diesen Tischen saßen, vom Rest des Cafes´ völlig abgetrennt und gezwungen waren, einander anzuschauen, ohne die Möglichkeit, den Blick durchs Fenster oder auf das Gesicht eines Gastes an einem anderen Tisch schweifen zu lassen.
Der Held meines Romans „Schahrijars Ring“, den Du erwähnst, beschreibt dieses Cafe´ ausführlich, und dann bemüht er sich, seine Liebste davon zu überzeugen, dass die Psychoanalyse nur in einer Gesellschaft mit solchen Cafes´ habe entstehen können: Alles wird verborgen, nach innen gekehrt, abgeschirmt und zum Schweigen gebracht, aber doch deutlich gezeigt. Anschließend vergleicht er diesen Typ Cafe´ mit den Pariser Cafes,´ in denen sich alle Gäste in Fenstern ohne Gardinen, wie in Schaukästen, drängen oder sogar hinausgegangen sind, auf das Trottoir vor dem Cafe.´ In einem Wiener Cafe´ ist der Gast durch die Raumaufteilung und Atmosphäre buchstäblich gezwungen, den Menschen an seinem Tisch anzuschauen und sich leise mit ihm zu unterhalten, während er in einem Pariser gleichermaßen gezwungen ist, das Innere des Lokals zu verlassen und um einen Platz zu kämpfen, an dem er sich möglichst gut zeigen, um nicht zu sagen ausstellen kann. Das Pariser Cafe´ zeigt alles, viel mehr, als es gibt, das Wiener dagegen verbirgt alles, es verbirgt auch das erfolgreich, was es nicht gibt, das heißt, es verbirgt, dass es nichts zu verbergen gibt. So beendet mein Held eine lange Episode, die ich hinausgeworfen habe, weil mir schien, der Roman komme ohne sie aus.
Entschuldige bitte diese lange sentimentale Abschweifung, ich musste sie schreiben, nicht um die Überlegungen meines Romanhelden vor dem Vergessen zu bewahren, sondern als Erinnerung an das Hotel Evropa und an seine Cafes,´ wie sie früher waren. Im Juli 1992 wurde das Hotel Evropa von präzisen Artillerietreffern zerstört und nach dem Krieg unter dem Namen Hotel Europe erneuert. Es wurde etwas geschaffen, was eine globalisierte anonyme Bequemlichkeit bietet, die jeden zufriedenstellt und keinen erfreut, für jeden annehmbar ist, weil niemand sie als seine erkennt und empfindet. Alles nach dem Geschmack und den Wünschen der Finanzfundamentalisten. Die Wucherer haben wohl seit je die Welt besessen, haben aber den Menschen, die in ihr leben, früher erlaubt, sie zu gestalten, doch nun, würde ich sagen, gestalten sie auch die Welt, in der wir leben müssen.
Ich nehme an, dass Du nicht mit mir übereinstimmen wirst (ich glaube, ein Grund für unsere gute Kommunikation ist, dass wir meistens nicht miteinander übereinstimmen), aber ich denke, dass das, was mit unseren Cafes´ passiert ist, mit dem zu tun hat, was Du im zweiten, dramatischen Teil Deines Briefes beschreibst. Auch mir ist aufgefallen, dass die Menschen unzufrieden, verbittert, besorgt sind. Ich habe bis vor einigen Jahren geglaubt, das beziehe sich nur auf die Österreicher, die eine spezifische Kultur des Jammerns entwickelt haben, die sie sorgsam pflegen und virtuos zelebrieren. Ich erinnere mich, wie ich 1997 oder 1998 in Graz fast in Tränen ausgebrochen wäre über das Schicksal eines Taxifahrers. Gerade war ich aus Sarajevo gekommen, wo noch viele Menschen in Wohnungen mit Zimmern lebten, in denen eine oder zwei Wände fehlten, hungrig oder halbhungrig, mit Hähnen, aus denen nur hin und wieder Wasser rann, und der gute Mann, der mich mit seinem Auto in Graz fuhr, erzählte mir, das Leben sei bitter, die Regierung unfähig, die Stadt im Zerfallen begriffen und die Welt in Auflösung, die wir vielleicht noch nicht sähen, die aber sicher schon ziemlich fortgeschritten sei.
Erst nachdem ich mich detailliert erkundigt hatte, beruhigte ich mich hinsichtlich des Schicksals meines Fahrers, weil ich erfahren hatte, dass er in einem eigenen Haus lebte, zusammen mit einer gesunden Frau und gesunden Kindern, genug verdiente und gut mit den Nachbarn auskam, die zwar keine guten Menschen und lästig waren, weil sie ständig unzufrieden waren, aber sie waren anständig und relativ gut erzogen.
Aber nein, was Du beschreibst, hat nichts mit der österreichischen Kultur des Jammerns zu tun. Das österreichische Jammern ist melancholisch und still, der Österreicher jammert eher sich selbst als seinem Gesprächspartner etwas vor, er trauert eher über den allgemeinen Zustand der Welt, als dass er schreien würde. Doch dieser Neusprech der europäischen Medien und Individuen ist, wie Du sagst, ungehobelt laut und zornig, verbittert und geradezu autistisch auf die allgemeinen Ängste und Frustrationen ausgerichtet, und zwar überall gleichermaßen, in Deutschland und in Frankreich, in Holland und in Dänemark . . . Camus hat vom Menschen in der Revolte gesprochen, ich würde seine Formulierung gern missbrauchen und den europäischen neuen Menschen einen Menschen in der Verbitterung nennen, der fühlt, dass ihm die Welt etwas vorenthält, worauf er ein volles Recht hat. Eine Zeit lang habe ich mich über den „neuen Ton“im öffentlichen, aber auch privaten Diskurs, der nun in den europäischen Gesellschaften herrscht, lustig gemacht, weil ich glaubte, er zeige lediglich die Angst von Menschen, denen es verdammt gut geht und die befürchten, das könne einmal vorbei sein. Sie wissen eigentlich, dass es vorbeigehen wird, wenn nicht durch den Weltuntergang, so doch durch Alter, Krankheit, Tod, aber sie können einfach keine Firma finden, bei der sie eine Versicherung gegen Alter, Krankheit und Tod abschließen können.
Aber auch das ist nicht die Wahrheit, die Ängste, von denen ich spreche, sind konkret und drücken sich anders aus, ohne diese heutige Wut auf alles, diese allgemeine Verbitterung, diese Bereitschaft, über jede Andeutung menschlicher Güte, Solidarität, jedes Vertrauen in das Gute zu spotten. (Du kannst Dir vorstellen, wie mich als Ausländer die Entdeckung schockiert hat, dass „Gutmensch“im Neudeutschen in Wirklichkeit ein Schimpfwort, eine Disqualifizierung eines so bezeichneten Menschen ist! Interessant ist, dass das Schimpfwort „Gutmensch“besonders gern jene Exemplare der Spezies Mensch verwenden, welche die europäische christliche Kultur, in der Güte eine kostbare Gabe Gottes darstellt, gegen mich verteidigen.)
Alle kritisieren „laut und heftig, aber ziellos und völlig inkonsequent“, wie Du sagst, am meisten das „bürokratische Monster in Brüssel“und die EU. Dieses Geschrei gegen Brüssel und die EU erinnert mich an das Geschrei, das zu Ende der Existenz Jugoslawiens gegen Belgrad und die Regierung in Belgrad erhoben wurde. Alle waren sicher, dass „die da in Belgrad“gegen sie arbeiteten (das sagten auch jene, die in Belgrad lebten), dass dort lauter Idioten und Misanthropen säßen, alle Zahlen und Tabellen bewiesen, dass Jugoslawien sie ausnütze und sie in ihm nur verlören, und die Regierungen und Politiker der einzelnen jugoslawischen Republiken hörten das gern und wiederholten es.
Ein bosnisches Sprichwort sagt: „Wen die Schlangen gebissen haben, der fürchtet auch die Eidechse.“Ich wollte, wollte sehr, dass das auf mich zuträfe, mir liegt viel daran, dass die EU dem Schicksal Jugoslawiens entgeht. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union eins der größten kulturellen und politischen Unterfangen in der Geschichte ist, eins von jenen Unterfangen, um die und um derentwillen es sich durchaus lohnt, sich zu bemühen. Es ist klar, ein solches Unterfangen lässt sich nicht ohne Krisen und Widerstände zum Erfolg führen, aber alles spricht dafür, dass momentan die bisher tiefste Krise besteht, weil sich dem europäischen Projekt heute die Nationalismen und die Wut auf alles Fremde entgegenstellen, die gleichzeitig bei fast allen EU-Mitgliedern aufgetaucht sind. Bis zum nächsten
Brief grüßt Dich herzlich Dein Gutmensch Dzevadˇ
Es mangelt an beidem: an der Erinnerung, wie es gestern wirklich war, und an der Vorstellungskraft, wie es morgen in Wohl und Wehe sein könnte.