Warum alles, was ist, gut ist
In seinem das Juste milieu des akademischen Betriebs auf die Schaufel nehmenden Roman „Kraft“gelingt Jonas Lüscher eine sarkastische Deutung der Zeitgeschichte seit den frühen Achtzigerjahren. Fulminant.
Der Kampf um die liberale Gesellschaft hat begonnen. So ernst war die Lage seit Jahrzehnten nicht. Da will auch die Literatur nicht fernstehen. Einmal greifen ihre Adepten zum fein geschliffenen Analysestilett, ein andermal zur apokalyptischen Keule. Der in München lebende Schweizer Jonas Lüscher greift zur Gelehrtensatire. In Anlehnung an die TheodizeeBekräftigung des Philosophen Leibniz, unsere Welt sei nach göttlichem Plan die beste aller denkbaren Welten, sowie an deren geistreicher Verhöhnung in Voltaires „Candide“bastelt Lüscher eine ebenso groteske wie haarsträubend schräge Slapstickkomödie in Romanform, in deren Mittelpunkt der Rhetorikprofessor Richard Kraft steht.
Dieser Kraft ist, entgegen der Verheißung seines Namens, ein intellektueller Geisterbahnfahrer. Einst, in seligen Studienzeiten der frühen Achtzigerjahre, hat er sich als opportunistischer Kletterer auf der akademischen Karriereleiter eilfertig der politischen Wende in Richtung Neoliberalismus angeschlossen. Gemeinsam mit seinem Freund Istvan´ Pancz´el,´ einem nicht ganz freiwilligen Flüchtling vor dem ungarischen Gulaschkommunismus, hat er in Westberlin den „Marktbefreiern“Thatcher und Reagan zugejubelt.
Fatale Niederlagen bei Frauen
Jahrzehnte später, als wohlbestallter Nachfolger von Walter Jens auf dem RhetorikLehrstuhl an der altehrwürdigen Tübinger Universität, predigt Kraft seinen Studenten den aufrechten Gang und geht doch immer wieder vor dem Schicksal – oder dem selbst herbeigeführten Ungemach – tief in die Knie. Vor allem von den Frauen, deren Zuneigung sich der Egozentriker nicht zu verdienen wusste, musste Kraft dreimal fatale Niederlagen hinnehmen, weshalb dem kraftlosen Schwadroneur nun, in seinen Fünfzigern, der menschliche wie finanzielle Bankrott droht.
Solcherart in Nöten, wendet sich der „gewiefte Manager seiner Katastrophen“, wie ihn sein Urheber einmal nennt, an den Studienfreund Istvan,´ der mittlerweile als Experte für atomare Abrüstung an der Stanford University in Kalifornien lehrt. Istvan,´ der sich nun Ivan nennt, verschafft Kraft die Einladung, an einer wissenschaftlichen Preisfrage im Silicon Valley teilzunehmen. Das Thema lautet, Gottes- und Technikgläubigkeit zusammenführend: „Warum alles, was ist, gut ist, und warum wir es dennoch verbessern können“. Angesichts des unter kalifornischer Sonne hoch aufragen- den Hoover-Tower, Wahrzeichen eines neoliberalen Thinktanks, ist dies der Auftrag, dem kapitalistischen Weltgeist einen reißfesten Optimismus zu verschaffen.
Mit einer Million Dollar soll die beste Antwort ausgezeichnet werden. Preisstifter ist ein mit hochriskanten Finanzspekulationen reich gewordener Geldmagnat, der auftritt wie Trump in seinem Kabinett der Milliardäre: Gott auf der Zunge und das Auge starr auf das Geschäft gerichtet. Fassungslos erlebt Kraft, wie sein Gegenüber „scheinbar mühelos und mit bestechender Selbstverständlichkeit Widersprüchliches, offensichtlich Falsches und klar erkennbar nicht Zusammengehörendes in einen gänzlich logisch wirkenden Zusammenhang zu bringen“imstande ist. Die Suada dieses benevolenten Internet-Midas begeistert sich für die Vision einer durch Algorithmen und Digitalisierung vorangetriebenen technischen Herrschaft, der sich das Individuum alternativlos zu ergeben hat.
Ob solch zweifelsbefreiter Zukunftsgläubigkeit gerät Krafts Weltbild denn doch kräftig ins Wanken. Aber er braucht das Geld. Also betreibt er das, was er schon immer getan hat: kompilieren, Zitate verwerten, das Vakuum mit Dampfplauderei vernebeln. Keines eigenen Gedankens Blässe vermag der Geisteswissenschaftler dem digitalen Machbarkeitsfuror entgegenzusetzen, der seinen aus Europa mitgebrachten Humanismus grundlegend erschüttert. Also verliert er sich in Reminiszenzen seines missglückten Privatlebens, gibt (sich) am Ende auf.
Kein Besserwisser von links gerät da ins Säurebad einer schmerzvollen Umwertung seiner Werte. In seinem das ganze Juste milieu des akademischen Gelehrtenbetriebs auf die satirische Schaufel nehmenden Roman gelingt es Jonas Lüscher, eine eigenwüchsige Deutung der Geschichte der deutschen Bundesrepublik seit den frühen Achtzigerjahren anhand der Erlebnisse der beiden Freunde Richard und Istvan´ zu entwickeln, deren Leitmotiv stets der Wunsch nach Abgehobenheit von der Masse, nach Elitenzugehörigkeit war. Um diesem Wunsch zu entsprechen, schlossen sie sich in Studententagen dem neoliberalen Leitbild der globalen Ökonomie an: als der Gegenbewegung zur vorherrschenden linken Gesellschaftstheorie. Der dem Kommunismus in Ungarn entkommene Istvan´ tat es, seiner Lebenserfahrung folgend, aus Widerstand, sein Freund Richard Kraft aber aus opportunistischem Ehrgeiz.
Wie die meisten Satiriker arbeitet Lüscher mit kennzeichnenden Klischees. Das geht zuweilen nicht ohne grobe Verzerrungen, absurde Verkürzungen und stark strapazierte Glaubwürdigkeiten ab. Indes, seine Figuren sind Erfüllungsgehilfen einer ätzenden These, keine realistischen Empfindungsträger. Als Stilist ist Lüscher ein flexibler Organist mit Vorliebe für lange Satzetüden und vergangenheitsselige Stilfiguren. Seinen allwissenden Erzähler lässt er sich hin und wieder unvermittelt kommentierend einschalten – da greift Lüscher denn doch allzu kräftig in altfränkische Manuale.
Mit der Novelle „Frühling der Barbaren“, eine im Ferienparadies von Tunesien angesiedelte Erzählung zur Finanzkrise und zum Börsenkrach in London, hat der 1976 geborene Jonas Lüscher 2013 erfolgreich debütiert. Mit seinem sarkastischen Romanrundumschlag „Kraft“hat er, wie er es in anderem Zusammenhang einmal selbst ausgedrückt hat, nun „noch etwas erzählerische Kohle nachgelegt“. Es knistert und züngelt. Fulminant.