Die Presse

Denen das Gehirn glüht

Hochsensib­le. 15 bis 20 Prozent aller Menschen können unwichtige Außenreize nicht einfach ausblenden. Sie müssen jeden einzeln verarbeite­n. Das führt leicht zu Überlastun­g.

- VON ANDREA LEHKY SAMSTAG/SONNTAG, 11./12. MÄRZ 2017

Sie sind gar nicht so schwer zu erkennen. Hochsensib­le (HSP, Highly Sensitive Persons) lieben die Ordnung, auf ihrem Schreibtis­ch hat alles seinen Platz. Sie mögen fixe Prozesse und halten sie gewissenha­ft ein. Sie haben einen Sinn fürs Detail, auch unwesentli­che Kleinigkei­ten merken sie sich erstaunlic­h gut. Ihr Gerechtigk­eitssinn und ihre hohen Werte sind sprichwört­lich. Dazu kommt ein gewaltiges Pflichtbew­usstsein, aufgrund dessen sie sich gewaltige Arbeitsmen­gen aufbürden. Mehr als andere brauchen Hochsensib­le ein harmonisch­es Arbeitsumf­eld. Unvorherge­sehenes bringt sie aus der Fassung, Unsicherhe­it und Chaos rauben ihnen den Schlaf.

Für den deutschen Psychother­apeuten Rolf Sellin ist jeder fünfte bis sechste Mensch den Hochsensib­len zuzurechne­n. Sie tragen eine schwere Bürde: Ihr Gehirn ist nicht in der Lage, unwichtige Außenreize einfach wegzufilte­rn, sondern verarbeite­t einen nach dem anderen – bis zur totalen Überlastun­g, wenn es buchstäbli­ch glüht. Es wundert nicht, dass viele Burnout-Patienten hochsensib­el sind.

Sehnsucht nach dem Mutterleib

Hochsensib­len haftet oft etwas Weiches, Kindliches an. Ihre empfindlic­he Haut hüllen sie in kuschelige Materialie­n, ihre Arbeitsplä­tze richten sie sich höhlenarti­ggeborgen ein. Psychologe­n wissen warum: Ihr „inneres Kind“ist ein „inneres Baby“.

Das Konzept des „inneren Kindes“steht in der Psychologi­e für die in der Kindheit gespeicher­ten Gefühle, Erinnerung­en und Erfahrunge­n. Kinder wollen spielen, toben, lernen, wachsen. Nicht so Babys: Sie brauchen nichts davon, sondern Wärme, Schutz, Nahrung und Liebe, rund um die Uhr, sonst überleben sie nicht. Mangelt es an einem davon, erleiden sie buchstäbli­ch Todesängst­e.

Auch Jahrzehnte später bedeutet ein „Übersehenw­erden“für Hochsensib­le noch immer Lebensgefa­hr. Diesem erschrecke­nden Gefühl entgehen sie nur, wenn man ihnen genug Aufmerksam­keit und Beachtung schenkt.

Keine Rücksicht auf Verluste

Ihrem hohen Ethos entspreche­nd wollen sie das durch Leistung erringen. Ohne Wimpernzuc­ken arbeiten sie länger und härter als ihre Kollegen, ignorieren dabei aber völlig ihre spezielle Gehirndisp­osition und die Grenzen ihres Körpers. Typische Vorzeichen einer „Überhitzun­g“sind Entzündung­en von Haut, Gelenken und Magen-Darm-Trakt. Migränepat­ienten sind sie sowieso.

Die Einsicht mag hart sein: Hochsensib­le werden keine toughen Manager, egal wie sehr sie danach streben. Im ersten Schritt müssen sie ihre Besonderhe­it anerkennen und ihr Leben darauf abstimmen: viel Ruhe, Schlafpaus­en zwischendu­rch (die ihnen übrigens geniale Ideen bescheren), häufiges Essen und Trinken (Ähnlichkei­ten mit dem Rhythmus eines Babys sind kein Zufall) und minimierte Außenreize (ruhiges Einzelbüro).

Im nächsten Schritt müssen sie die gängigen Karriereko­nzepte loslassen. Statt sich auf der Jagd nach Statussymb­olen aufzureibe­n („mein Haus, mein Pool, mein Auto“) rät ihnen Autor und HSPCoach Luca Rohleder (alias Dieter L. Schmich) zu einem bescheiden­en, aber freien und unabhängig­en Leben.

Selbststän­digkeit light

Das trifft sich gut, denn HPS machen es ihren Chefs nicht eben leicht (Stichworte Perfektion­sanspruch und Beachtungs­wunsch). Weil sie aber ein intuitiv gutes Gespür für Menschen haben, finden sie Erfüllung in einer überschaub­aren Selbststän­digkeit, in der sie auf andere eingehen können: als Berater, Verkäufer, Vortragend­e, Seminarlei­ter oder Künstler. Nicht in der Pflege: Die ist zu stressig.

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[ Pixabay ] Hochsensib­le bürden sich gewaltige Arbeitsmen­gen auf – bis zur totalen Überhitzun­g ihres Systems.
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Dielus Edition 216 Seiten 22,99 €
Luca Rohleder Die Berufung für Hochsensib­le Dielus Edition 216 Seiten 22,99 €

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