Missbrauch der Meinungsfreiheit darf verboten werden
Grundrechte. Bei NS-Wiederbetätigung hat der Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass der Missbrauch der Meinungsfreiheit mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar ist: vielleicht verallgemeinerbar; doch Vorsicht ist geboten.
Wien. Versammlungsrecht und freie Meinungsäußerung zählen zu den Grundfesten westlicher Demokratien. Eingriffe ins Grund- und Menschenrecht auf friedliche Versammlung sind nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Rechte Dritter notwendig sind. Die Höchstgerichte prüfen die Frage, ob eine Untersagung oder Auflösung einer Versammlung gerechtfertigt war, streng und lassen auch zeitweise Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit nicht als Rechtfertigung zu. Deshalb kann die Blockade einer Autobahn erlaubt sein. Die Auflösung einer Versammlung, selbst einer spontan, unangemeldet abgehaltenen, muss das letzte Mittel bleiben; fremdes Eigentum ist allerdings rechtlich geschützt, etwa, wenn ohne Genehmigung eines Verfügungsberechtigten Privatgrund betreten wird und Schäden verursacht werden.
Wehrhafte Demokratie
Wirtschaftliche Rechtspositionen wie Erwerbs- und Eigentumsfreiheit scheinen aber gegenüber den „politischen“Rechten in der Rechtsprechung schwächer eingestuft zu werden. Derzeit scheint jedoch ein anderes Problem der Abwägung im Vordergrund zu stehen: Wie soll der Staat grundrechtskonform mit Versammlungen und Meinungsäußerungen umgehen, welche womöglich den in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Verfassung verankerten Grundwerten selbst diametral widersprechen? Welche Möglichkeiten der wehrhaften Demokratie können rechtsstaatlich umgesetzt werden, wann schießt der Staat übers Ziel hinaus und betritt seinerseits ein rechtsstaatsfernes oder gar autokratisches Minenfeld?
Die Antwort muss differenziert ausfallen. Denn einerseits schmälert Art 16 EMRK das Recht der Staaten nicht, die politische Betätigung von Ausländern einzuschränken; andererseits ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) streng, wenn sich staatliche Maßnahmen gegen die freie Meinungsäußerung (auch fremder Manifestanten) richten.
Eindeutig sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs und des EGMR in all jenen Fällen, in welchen NS-Verbrechen geleugnet oder verharmlost werden oder die Wiedererrichtung des NSStaates gefordert wird. Wiederbetätigung rechtfertigt nicht nur, Versammlungen zu untersagen. Sofern sich unverbesserliche NS-Autoren auf die Meinungsfreiheit stützen, verweigert ihnen der EGMR auch in der Regel den Rechtsschutz mit folgendem, womöglich verallgemeinerungsfähigen Argument: „Der Missbrauch der Meinungsfreiheit ist mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar und verletzt die Rechte anderer.“Deshalb kommt eine Verletzung der Täter in ihren Grundrechten nicht in Betracht; also stuft der EGMR Beschwerden von NS-affinen Autoren oder Wehrsportveranstaltern, die wegen Wiederbetätigung und vergleichbarer Delikte verurteilt wurden, als unzulässig ein.
Gesetzesvorschlag mit Tücken
Im Streit um Werbetouren zum türkischen Referendum vom 16. April hat Innenminister Sobotka einen Entwurf zur Novelle des Versammlungsgesetzes vorgelegt: Mit Zustimmung der Bundesregierung soll der Innenminister im Einvernehmen mit dem Außenminister einem ausländischen Politiker die Teilnahme an einer Veranstaltung untersagen können, die nicht der Wahl zu einem inländischen Vertretungskörper dient, „wenn dies dem Schutz der in der EMRK liegenden Menschen- und Grundrechte dient“. Die Formulierung hat ihre Tücken, weil sie auch – etwas überschießend – auf nichtstaatliche Vertretungskörper anwendbar wäre. Auch die Ausnahme zugunsten heimischer NR-, LT- und GR-Wahlen könnte als Bumerang wirken und Versammlungen gegen diese unangreifbar machen.
Die Kerbe, in welche die Neuregelung schlägt, könnte im Lichte der Art 10, 11 EMRK Probleme mit sich bringen, und zwar auch mit dem EGMR, was besonders peinlich wäre. Jedenfalls würde Straßburg den Passus, dass eine untersagende Maßnahme, welche zweifellos in Menschenrechte eingreift, gerade den Schutz derselben bezwecken muss, genau nachprüfen. Damit, ausländischen Politikern das Wort abzuschneiden, welche problematische Maßnahmen propagieren, ist es noch nicht getan, denn anders als in den Wiederbetätigungsfällen genießen auch verstörende oder mit unserem Wertesystem unvereinbare Aussagen (z. B. die Forderung nach Todesstrafe oder Autokratie) grundsätzlich den Schutz der EMRK. Womöglich muss daher Österreich die unliebsamen Äußerungen dulden und kann rechtskonform nur auf Umwegen (Einreiseverbote, bau- und feuerpolizeiliche Maßnahmen) Massenkundgebungen verhindern. So wurde es in Deutschland praktiziert, das eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit ablehnt.
Es könnte hilfreich sein, aktuelle EGMR-Judikatur zur Türkei im Auge zu behalten. In den letzten Monaten haben die Straßburger Richter in drei Fällen entschieden, dass jenseits des Bosporus Menschenrechte verletzt worden waren. Im Fall Belge ging es um die Bestra- fung eines Oppositionellen, der für die (in der Türkei als „terroristisch“eingestufte) PKK geworben hatte. Obwohl in dessen Rede keinerlei Aufruf zur Gewalt enthalten war, kam es zur Festnahme und Verurteilung des Redners, was der EGMR als Verletzung der Meinungsfreiheit einstufte. Desgleichen im Fall Savda: Hier hatte ein Wehrdienstverweigerer eine Gefängnisstrafe ausgefasst, die Behörde verhinderte zudem, dass der Betroffene die Gründe für sein Fernbleiben von der Armee öffentlich darlegen konnte. Schließlich die dritte Verurteilung im Fall Kaos GL: Eine publizistische Förderung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften hatte für die Autoren im Gefängnis geendet. Alle drei Fälle ereigneten sich lang vor dem Putschversuch und zeigen, dass es mit der Informationsfreiheit im Europaratsstaat nicht zum Besten steht.
Nicht übers Ziel schießen
Heimischen Politikern steht es frei, menschenrechtswidrige Vorgänge und weitere Verschlechterungen der Situation Andersdenkender im Ausland anzuprangern. Ob aber Österreich gut beraten ist, seinerseits die Schraube stark anzuziehen und Manifestationen fremder Politiker zu unterbinden, mag zweifelhaft sein. Eine solche Maßnahme sollte nicht ad hoc getroffen werden, sondern angesichts er- kannter Bedrohungen in genereller und nachvollziehbarer Weise gesetzlich umgesetzt werden. Bisher ist der Gesetzgeber im VersG gut mit den zwei Novellen 2002 und 2013 gefahren, in denen ein Vermummungs- und Waffenverbot verankert und mit gerichtlichen Sanktionen versehen wurde. Die Sicherheitsbehörde muss Vermummte nicht festnehmen, kann dies aber nach ihrem Ermessen tun, wenn die Situation eskaliert. Sie muss derartige Versammlungen auch nicht auflösen, hat aber die gesetzliche Handhabe dazu nach Abwägung im Sinne der Verhältnismäßigkeit, was polizeirechtlich vernünftig und auch praktisch handhabbar erscheint.
Obwohl gute Gründe dafür sprächen, etwa ein Verbot fremder Hoheitszeichen und Fahnen bei Versammlungen im Gesetz zu verankern, sollte auch hier der Polizei die Freiheit bleiben, deeskalierend zu wirken und nicht einzugreifen, wenn die Versammlung nicht gewalttätig wird. Und auch wenn das Auftreten mancher „Gäste“womöglich den meisten von uns nicht zur Freude gereicht, muss ein Rechtsstaat stets die Schranken der internationalen Menschenrechtskataloge im Auge behalten.