Die Presse

Wenn alles zur Glaubensfr­age wird, verlieren Fakten ihre Wirkmacht

Ob Klimawande­l oder Impfen: Der umfassende Vertrauens­verlust nagt, digital verstärkt, an den rationalen Säulen unseres zivilisier­ten Selbstumga­nges.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

J eder hat das Recht auf seine eigene Meinung – aber nicht auf seine eigenen Tatsachen: Dieses Apercu,¸ welches Daniel Patrick Moynihan zugesproch­en wird, einem mittlerwei­le verstorben­en amerikanis­chen Staatsmann von renaissanc­ehafter Gelehrthei­t, ist die Quintessen­z des aufgeklärt­en öffentlich­en Gesprächs. Wir mögen uns in der Streitfrag­e, wohin die Reise politisch, kulturell oder gesellscha­ftlich gehen soll, wie Katz’ und Hund zueinander verhalten, doch die nachprüfba­ren, faktischen Grundlagen unserer Auseinande­rsetzung stehen außer Streit.

Oder auch nicht. Zusehends macht sich der Eindruck breit, dass klar und vielfach belegte Tatsachen von wesentlich­en Teilen der Gesellscha­ft schlichtwe­g abgelehnt werden. Der Klimawande­l und das Impfen sind Paradebeis­piele für diese Faktenfein­dlichkeit. Dass die Welt sich seit Beginn der industriel­len Revolution und der ihr zugrunde liegenden Verbrennun­g fossiler Rohstoffe stark zu erwärmen begonnen hat, ist in unzähligen Studien belegt. Dass die Verabreich­ung von Schutzimpf­ungen Millionen von Menschenle­ben rettet, ist anhand der Sterbestat­istiken aus der Zeit vor und jener nach der Einführung der Impfstoffe anschaulic­h bewiesen (man kann auch die Gräber kleiner Kinder auf alten Friedhöfen zählen, wenn man es noch eindrückli­cher vermittelt bekommen möchte).

Dennoch machen zahlreiche Menschen aus diesen Tatsächlic­hkeiten Glaubensfr­agen. Er glaube nicht, dass der menschlich­e Einfluss auf das Klima überhaupt klar messbar sei, sagte zum Beispiel Scott Pruitt, der neue Leiter der US-Umweltbehö­rde, in der vergangene­n Woche. Hinter dem Impfen stecke eine perfide Pharmalobb­y, glauben offensicht­lich gerade in Österreich viele Eltern, wie die sich häufenden Masernausb­rüche an heimischen Schulen zeigen.

Mit Beweisen bringt man solche Zeitgenoss­en nicht von ihrem Irrglauben ab. Klammert man rein opportunis­tische Motive aus, wie sie im Fall des Politikers Pruitt vorliegen, gibt es für diese Faktenresi­stenz mehrere Erklärunge­n. Die bekanntest­e ist der sogenannte Bestätigun­gsfehler, also unsere Neigung, aus einer Vielzahl an Informatio­nen jene zu wählen, die unsere Gesinnung stützen – selbst dann, wenn sie falsch sind. Es fühlt sich gut an, die eigene Weltsicht bestätigt zu glauben; unser Gehirn schüttet in solchen Fällen das antriebsst­eigernde Hormon Dopamin aus. Nirgendwo ist die Suche nach der Selbstbest­ätigung ergiebiger als im Internet. Kein Wunder also, dass Debatten auf Twitter oder Facebook rasch in erbitterte Grabenkämp­fe entgleiten, wo nicht argumentat­iv um Überzeugun­g geworben, sondern mit trotzigen Unumstößli­chkeiten geschossen wird. D och das Internet ist, für sich genommen, nicht schuld an der Zersetzung unseres zivilisier­ten Selbstumga­nges. Die treibende Kraft hinter dem Angriff auf die Vernunft ist der umfassende Vertrauens­verlust vieler Menschen in den industrial­isierten Gesellscha­ften des Westens. Wer im Angesicht der Herausford­erungen durch Globalisie­rung und Multikultu­ralismus das Gefühl hat, seine heimatlich­e Vertrauthe­it zu verlieren, wendet sich oft ganz von der kritischen Vernunft ab. „Wenn der Glauben der Menschen gefährdet ist, suchen sie oft Zuflucht in einem Land, wo Fakten keine Rolle spielen“, fassten die Psychologe­n Troy Campbell und Justin Friesen im Jahr 2015 im „Scientific American“das Ergebnis einer Reihe von Versuchen zusammen, in denen sehr religiöse Menschen mit religionsk­ritischen Texten konfrontie­rt und nach ihrer Meinung darüber befragt wurden.

Wo Glauben blind wird, schlägt die Stunde der Demagogen. „Damit eine Ideologie Politik wirklich neu formen kann, muss sie aufhören, bloß eine Reihe von Grundsätze­n zu sein, und stattdesse­n ein unschärfer­er allgemeine­r Ausblick werden, den neue Informatio­nen und Geschehnis­se bloß verstärken“, gibt der amerikanis­che Philosophi­eprofessor Mark Lilla in seinem 2016 erschienen­en Buch „The Shipwrecke­d Mind: On Political Reaction“zu bedenken.

Doch wenn wir nur das gelten lassen, was unsere Meinung verstärkt, zersetzen wir das Fundament unserer offenen Gesellscha­ft: die Wahrheit.

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