Die Presse

Diesen Faust trösten nicht Engel, sondern Abba

Akademieth­eater. Jan Bosse inszeniert­e Thomas Melles Roman „Die Welt im Rücken“, ein fiebriges, bildstarke­s Roadmovie über eine bipolare Störung. Joachim Meyerhoff ist phänomenal. Doch das Buch geht mehr zu Herzen.

- VON BARBARA PETSCH

An den eigentlich­en Geschlecht­sakt mit Madonna kann ich mich kaum erinnern. Es wird weder besonders wild noch besonders langweilig gewesen sein. Madonna ist nämlich gar keine Sexbombe.“Thomas leidet an einer bipolaren Störung. Erst will er sie nicht wahrhaben, dann überfällt sie ihn. Im Wahn glaubt er, mit Stars zu schlafen, er wird in die geschlosse­ne Abteilung der Psychiatri­e eingeliefe­rt, flüchtet, muss wieder hinein. Als Autor wird er immer bekannter, doch die Schulden wachsen – und Gnarls Barkley singt dazu „Crazy“: „I lost my mind . . .“

Thomas Melles „Welt im Rücken“handelt von ihm selbst. Aber das Buch ist viel mehr als ein Krankenber­icht. Per Anhalter durch die Buben-Galaxis, so könnte man den Boom von Autoren in der Nach-Wende-Generation beschreibe­n, auch wenn profiliert­e Damen wie Helene Hegemann oder Juli Zeh in der illustren Runde von Pop-Literaten wie Benjamin Lebert, Stuckrad-Barre oder Christian Kracht zu finden sind. „Lockerschr­eiber“sind sie für Melle – den dramatisch­en, tragischen Außenseite­r aus einer unglücklic­hen Familie mit prügelndem Stiefvater und depressive­r Mutter: „Meine Kindheit trägt die Farbe des Wortes Hämatom“.

Ein Shakespear­e-Irrer von heute

„Die Welt im Rücken“ist eine Faustiade, vor dem Selbstmord bewahren diesen Helden aber nicht Engel, sondern Abba mit „Fernando“. Immer wieder steht Thomas auf, schwingt die Sprache wie eine Laser-Waffe. Viel Zeit-Diagnose steckt in dem Buch. Es geht um die Wissensrev­olution: Was muss, kann gewusst werden, welchen Trost bieten noch die „alten Meister“? Es geht um die Gründerzei­t im Internet, das Stimmengew­irr, das selbst Gelassene in Raserei versetzt.

Es geht um Hilfe durch die Medizin und um ihre Hilflosigk­eit; Gehirne werden seit der Renaissanc­e seziert, die Hirnforsch­ung heute schreitet voran, doch ganz genau weiß man nicht, was da oben vorgeht, also wird das fleischlic­h-geistige Gewinde-Gewirr mit Tabletten beschossen. Thomas nimmt zuletzt Lithium. Techno und Tinnitus-Kater, Bier und Korn, Ausrasten, Umziehen, Herumfahre­n, Schlägerei­en begleiten das fiebrige Roadmovie, aus dem jeder Zuseher den Strang ziehen mag, der seinen Nerv trifft. Seufzen und Raunen bei der Uraufführu­ng der Roman-Fassung am Samstag im Akademieth­eater ließen manche erschrocke­ne Erkenntnis ahnen: Der Shakespear­esche Irre, der hier tobt, steckt in jedem. Ein Glück, wenn er nicht so machtvoll herausdrän­gt.

Jan Bosse, der gewitzte und witzige Regisseur, der einen punkigen „Othello“und rasenden „Robinson“an der Burg servierte, hat inszeniert. Bühnenbild­ner Stephane´ Laime´ wählte die Feuermauer als Hauptkulis­se. Gegen Schluss schwebt eine weiße Skulptur auf und ab, die an Bruno Gironcolis Liebes-und Todesmasch­inen erinnert. Vielleicht handelt es sich aber auch um den Temporalla­ppen des Gehirns, zuständig für Gedächtnis, Sprachvers­tändnis – oder Halluzinat­ionen. In über drei Stunden mit einer Pause („Ich muss kurz aufräumen“) bestreitet Joachim Meyerhoff alleine diesen Abend. Immer wieder setzt einen dieser unglaublic­he NervenScha­uspieler in Erstaunen.

Ariadnefad­en im Wahn-Labyrinth

In beiger Hose, Pulli, Krawatte in gleicher Farbe tritt Thomas an, darunter trägt er schon den Overall (die Zwangsjack­e?). Er spielt Pingpong, die Bälle sind ein Running Gag, sie werden zerklopft, zerbissen, einer schwebt in der Luft, andere verbinden Neuronen. Thomas baut eine Do-it-yourself-Paranoia. Er schlingt Wolle, der Ariadnefad­en im Labyrinth des Wahn-Minotaurus wird zum Geflecht, in dem der verstörte Bastler behände herumstolp­ert. Er vervielfäl­tigt sich in schreiende­r Helnwein-Pose auf dem Ko- pierer, tackert ein gespenstis­ches Alter Ego von sich an die Wand. Das Publikum muss mitspielen, beim Tischtenni­s mit mehreren Bällen, bei der „Provokatio­n“, Meyerhoff verspottet Leute in der ersten Reihe und heftet den Schal einer Dame auf sein Gemälde. Wie Jesus schleppt er sein Kreuz, einen stählernen Balken. Das Lustigste ist die bernhardes­ke Theater-Parodie über die Proben eines der Stücke von Thomas in Erlangen.

Das Publikum raste: Standing Ovations für Meyerhoffs Virtuosen-Stück. Wohl haben wenige den Roman gelesen, wie oft bei Theaterver­sionen von Büchern. Macht nichts. „Die Welt im Rücken“, das Original, ist unsagbar traurig, deprimiere­nd, nur selten urkomisch. Es schildert inneren Zerfall, Isolation, Ich-Verlust unter polierten Oberfläche­n. Diese Aufführung ist grandios, aber sie erhellt nur Teile von Melles Kosmos.

 ?? [ Burgtheate­r/Reinhard M. Werner ] ?? Ein Wahnsinn! Joachim Meyerhoff als „Ich“, Protagonis­t von Thomas Melles Roman „Die Welt im Rücken“, kopiert sein bestes Stück für ein Kunstwerk im Wiener Akademieth­eater.
[ Burgtheate­r/Reinhard M. Werner ] Ein Wahnsinn! Joachim Meyerhoff als „Ich“, Protagonis­t von Thomas Melles Roman „Die Welt im Rücken“, kopiert sein bestes Stück für ein Kunstwerk im Wiener Akademieth­eater.

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