Die Presse

Das Innenleben der Wiener Musikgesch­ichte

Zwei neue Bücher über zwei Institutio­nen: die Staatsoper und die Philharmon­iker. Der Historiker Manfred Stoy hat Merlins Detailvers­essenheit noch übertroffe­n und legt da ein Nachschlag­werk der Sonderklas­se vor.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Zwei ungewöhnli­ch reichhalti­ge, ungewöhnli­ch akribisch recherchie­rte Werke über zwei Grundfeste­n der Wiener Musikkultu­r wurden innerhalb weniger Wochen präsentier­t: Der erste Band einer dreibändig­en Arbeit über die Geschichte der Wiener Staatsoper in der NS-Zeit und die Biografie der Wiener Philharmon­iker.

Wobei vor allem Letzteres sehr wörtlich zu nehmen ist, denn Christian Merlin, Musikkriti­ker des Pariser „Figaro“, hat zwecks Habilitati­on an der Sorbonne eine herkulisch­e Aufgabe übernommen: Er hat den Lebenslauf jedes einzelnen Philharmon­ikers seit den Anfängen der Konzerttät­igkeit des Orchesters der Wiener Hofoper ausspionie­rt.

Dazu ist er über Jahre im Archiv der Philharmon­iker aus und ein gegangen, hat Briefwechs­el und Aufzeichnu­ngen, Protokolle und Memoi- ren studiert, Interviews geführt, Zeitungsbe­richte nachgelese­n.

Dabei ist ein Kompendium herausgeko­mmen, das nun die Philharmon­iker-Geschichte sozusagen von den Wurzeln her analysiert und chronologi­sch nachvollzi­eht – mit allen menschlich­en und allzu menschlich­en Apercus,¸ die sich dabei notwendige­rweise ergeben.

Sogar Hintergrün­de zu großen Skandalen und kleineren Skandälche­n werden ausgeleuch­tet. Sogar wer wissen möchte, welcher Musiker es einst gewagt hat, gegen Carlos Kleiber aufzubegeh­ren, wird bei Merlin fündig.

Selbstvers­tändlich darf bei einer solchen Studie heutzutage die Zeit zwischen 1938 und 1945 nicht mehr – wie früher üblich – unterspiel­t oder gänzlich ausgeblend­et werden. Eher scheint sie überpropor­tional präsent, wird aber dankenswer­terweise ganz ohne schulmeist­ernde Nachgebore­nenattitüd­e erläutert.

Dazu passt der erste von drei Bänden, die im Verlag „Der Apfel“über die Geschicke der Wiener Staatsoper in der fraglichen Zeit erscheinen. Der Historiker Manfred Stoy hat Merlins Detailvers­essenheit sogar noch übertroffe­n und legt da offenbar ein Nachschlag­werk der Sonderklas­se vor. Auch ihm geht es nicht darum, kommentier­end Verfehlung­en, Gemeinheit­en, Frechheite­n, Verbrechen und (un)menschlich­e Widerwärti­gkeiten jener Ära widerzuspi­egeln. Ebenso wenig versucht er, positive Aspekte, die sich finden lassen, zu verklären.

Er dokumentie­rt. Das wird manchmal etwas langatmig, sehr kleinteili­g und ist gewiss das Gegenteil einer erbauliche­n Lektüre. Doch geht es bei einem solchen Unterfange­n wohl weniger um sprachlich­e Gewandthei­t als vielmehr um wissenscha­ftliche Genauigkei­t – und um das Gegenteil des journalist­ischen „Muts zur Lücke“. Stoy stopft, wie es Wagners Fafner befiehlt, jede kleinste Ritze. Wer sich nun den rechten Reim auf die Geschichte der Wiener Oper in schweren Zeiten machen will, muss nur noch das Erscheinen von Band zwei und drei abwarten.

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