Das Innenleben der Wiener Musikgeschichte
Zwei neue Bücher über zwei Institutionen: die Staatsoper und die Philharmoniker. Der Historiker Manfred Stoy hat Merlins Detailversessenheit noch übertroffen und legt da ein Nachschlagwerk der Sonderklasse vor.
Zwei ungewöhnlich reichhaltige, ungewöhnlich akribisch recherchierte Werke über zwei Grundfesten der Wiener Musikkultur wurden innerhalb weniger Wochen präsentiert: Der erste Band einer dreibändigen Arbeit über die Geschichte der Wiener Staatsoper in der NS-Zeit und die Biografie der Wiener Philharmoniker.
Wobei vor allem Letzteres sehr wörtlich zu nehmen ist, denn Christian Merlin, Musikkritiker des Pariser „Figaro“, hat zwecks Habilitation an der Sorbonne eine herkulische Aufgabe übernommen: Er hat den Lebenslauf jedes einzelnen Philharmonikers seit den Anfängen der Konzerttätigkeit des Orchesters der Wiener Hofoper ausspioniert.
Dazu ist er über Jahre im Archiv der Philharmoniker aus und ein gegangen, hat Briefwechsel und Aufzeichnungen, Protokolle und Memoi- ren studiert, Interviews geführt, Zeitungsberichte nachgelesen.
Dabei ist ein Kompendium herausgekommen, das nun die Philharmoniker-Geschichte sozusagen von den Wurzeln her analysiert und chronologisch nachvollzieht – mit allen menschlichen und allzu menschlichen Apercus,¸ die sich dabei notwendigerweise ergeben.
Sogar Hintergründe zu großen Skandalen und kleineren Skandälchen werden ausgeleuchtet. Sogar wer wissen möchte, welcher Musiker es einst gewagt hat, gegen Carlos Kleiber aufzubegehren, wird bei Merlin fündig.
Selbstverständlich darf bei einer solchen Studie heutzutage die Zeit zwischen 1938 und 1945 nicht mehr – wie früher üblich – unterspielt oder gänzlich ausgeblendet werden. Eher scheint sie überproportional präsent, wird aber dankenswerterweise ganz ohne schulmeisternde Nachgeborenenattitüde erläutert.
Dazu passt der erste von drei Bänden, die im Verlag „Der Apfel“über die Geschicke der Wiener Staatsoper in der fraglichen Zeit erscheinen. Der Historiker Manfred Stoy hat Merlins Detailversessenheit sogar noch übertroffen und legt da offenbar ein Nachschlagwerk der Sonderklasse vor. Auch ihm geht es nicht darum, kommentierend Verfehlungen, Gemeinheiten, Frechheiten, Verbrechen und (un)menschliche Widerwärtigkeiten jener Ära widerzuspiegeln. Ebenso wenig versucht er, positive Aspekte, die sich finden lassen, zu verklären.
Er dokumentiert. Das wird manchmal etwas langatmig, sehr kleinteilig und ist gewiss das Gegenteil einer erbaulichen Lektüre. Doch geht es bei einem solchen Unterfangen wohl weniger um sprachliche Gewandtheit als vielmehr um wissenschaftliche Genauigkeit – und um das Gegenteil des journalistischen „Muts zur Lücke“. Stoy stopft, wie es Wagners Fafner befiehlt, jede kleinste Ritze. Wer sich nun den rechten Reim auf die Geschichte der Wiener Oper in schweren Zeiten machen will, muss nur noch das Erscheinen von Band zwei und drei abwarten.