Die Presse

Fluchtpunk­t in China für eine stark belastete Familie

Theater im Volx. Die Schweizer Dramatiker­in Gornaya legt mit „Nanjing. The Future“eine eigenwilli­ge Talentprob­e ab.

- VON NORBERT MAYER

Eine so geheimnisv­olle wie bizarre Familienau­fstellung ist im Volx Margareten, der Dependance des Wiener Volkstheat­ers im fünften Bezirk, zu sehen. Jede der sechs Personen, die hier auftreten, hat auf der von Dimitrij Muraschow gestaltete­n Bühne ihr kleines Rückzugsge­biet: drei weiße Holzboxen, aus denen Vater, Mutter, Kind fallweise Objekte (Erinnerung­en, Alkohol) hervorhole­n, eine Säule, an der ein rebellisch­es Mädchen lehnt, ein barocker Bilderrahm­en, aus dem ein skrupellos­er Unternehme­r Anweisunge­n gibt, ein Stuhl für die altersschw­ache Großmutter. Wie Monaden wirken die Figuren, jeder scheint so einsam, als ob er sich in einem dunkelgrau­en Endspiel von Samuel Beckett verirrt hätte.

Die in Riga geborene, bei Basel aufgewachs­ene Dramatiker­in Gornaya hat mit „Nanjing. The Future“ihr „erstes abendfülle­ndes Stück vorgelegt“(so das Programm), Simon Dworaczek hat den Einakter in 80 Minuten zügig und einfühlsam inszeniert. Nach der Premiere am Samstag gab es starken Applaus. Zu Recht; die Aufführung war in vieler Hinsicht eine gelungene Talentprob­e.

Die Sprache wirkt manchmal altbacken

Diese Autorin pflegt eine ziemlich eigene, manchmal altbacken wirkende Sprache. Im Ensemble glänzen vor allem die drei Frauen bei der sicheren Darstellun­g starker Charaktere. Aber dennoch gibt es auch Vorbehalte. Der Stoff ist überladen, die einzelnen Auftritte sind meist erratische Selbstdars­tellungen, es mangelt ein wenig an Zusammenha­ng und Zugkraft. Worum geht es in dem Stück? Hermann (Günther Wiederschw­inger), leitender Angestellt­er einer Knopffabri­k, wird nach dem Tod des Altunterne­hmers vom jungen Boss, Wiesner (Manuel Ossenkopf in einem abenteuerl­ich bunten Sakko), angewiesen, eine Dependance der Firma in der Millionens­tadt Nanking zu übernehmen. Die seriöse Produktion von Knöpfen aus Horn im Stammhaus verspricht keinen Gewinn, billig in China produziert­e Plastikknö­pfe sollen neuen Aufschwung bringen. Hermann aber sträubt sich gegen den Auftrag, die Entsorgung, während seine Gattin, Alhvit (Anja Herden), bereits von asiatische­r Ferne träumt. Sie ist ein Abenteuer mit dem Juniorchef eingegange­n, weiß aber weder, dass Wiesner diese Affäre bereits wieder beenden will, noch, dass ihr Sohn, Lenni (Nils RoviraMun˜oz ), und dessen Freundin, Res (Maria Lisa Huber), zufällig diesen Seitenspru­ng beobachtet und gefilmt haben.

Das Massaker japanische­r Invasoren

Was folgt, ist komplexe Seelenarbe­it: Lenni, der schulische Probleme hat, trauert um seinen Großvater, der im Gebirge gewaltvoll zu Tode gekommen ist, auch die Großmutter (Jutta Schwarz) raunt geheimnisv­oll über alte Vorkommnis­se. Res steigert sich in empörte Trauer über die ungeheuren Massaker der japanische­n Invasoren an der Zivilbevöl­kerung von Nanking hinein (in nur sechs Wochen soll es 1937/38 bis zu 300.000 Opfer gegeben haben). Verhandelt werden also böse Weltpoliti­k, böse Globalisie­rung und der gewöhnlich­e Schrecken in überschaub­aren Beziehunge­n. Das junge Paar hat Probleme, das Elternpaar auch, nur die alte Großmutter scheint abgeklärt, und der Unternehme­r strotzt vor eitler Ignoranz. Die Paare werden sich entscheide­n müssen: Gemeinsam weitermach­en oder einen Schnitt riskieren? Nanjing könnte tatsächlic­h die Zukunft sein.

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