Ärztekammer warnt vor der „Ärztehölle“
Primärversorgung. Mit einem „Krisengipfel“hat die Ärztekammer auf den Gesetzesentwurf für die Primärversorgung reagiert. Was die Ärzte befürchten – und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass dies auch eintritt.
Was Ärzte befürchten, wenn es „Primärversorgungseinheiten“gibt – und was davon eintreten könnte.
Wien. Der Gesetzesentwurf für die Einrichtung von Primärversorgungseinheiten treibt die Ärzteschaft erneut auf die Barrikaden. Am Mittwoch wurde in Wien ein „Krisengipfel“einberufen, die „Substanz der Gesundheitsversorgung“sei gefährdet, sagte Vizepräsident Johannes Steinhart. Und Ärztevertreter Karlheinz Kornhäusl sprach davon, dass den Ärzten der Himmel vorgegaukelt werde, in Wahrheit werde man sich aber gemeinsam mit den Patienten in der „Ärzte-Hölle“wiederfinden.
Der Gesetzesentwurf regelt, dass es künftig neben Hausärzten auch Primärversorgungseinheiten geben wird. Das können Gruppenpraxen sein, ein Netzwerk von Hausärzten oder auch Ambulatorien. Diese sollen längere Öffnungszeiten anbieten und Leistungen, die jetzt von Hausärzten oft nicht mehr erbracht werden: Hausbesuche, die Betreuung von chronisch Kranken oder Palliativmedizin. Mitarbeiten sollen auch andere Gesundheitsberufe, etwa Krankenschwestern oder Physiotherapeuten. Attraktiv werden soll dies durch ein Honorierungssystem, das den Mehraufwand mit einer Grundpauschale, Fallpauschalen und einem Bonus für das Erreichen bestimmter Ziele abdeckt.
Die Ärztekammer betont, man sei nicht prinzipiell gegen das Konzept Primärversorgung, wohl aber gegen den Entwurf des Ministeriums und verweist auf eigene Vorschläge. Die Sozialversicherungen wiederum werfen den Ärzten Wahlkampf für die Kammerwahl vor. Die Kritik der Ärzte im Detail – und wie berechtigt sie ist: 1. Radikaler Umãa‘ des Ges‘ndheitswesens steht ãevor. 90% Das stimmt zweifellos. Allein in Wien sollen 40 Prozent der Allgemeinmediziner in Primärversorgungseinheiten arbeiten. Der Hausarzt, der allein in seiner Praxis sitzt, wird damit zwar nicht völlig verschwinden, es wird aber zunehmend andere Formen der Betreuung geben. Wirklich sinnvoll ist das Konzept dann, wenn es damit gelingt, die Versorgung der Patienten zu verlagern – weg von den teuren Spitälern und Spitalsambulanzen hin zu den niedergelassenen Ärzten.
Das bisherige Hausärztesystem ist aber ohnehin bedroht: Bis 2025 sind 58 Prozent aller Hausärzte pensionsreif. Vor allem in ländlichen Gegenden gelingt es jetzt schon kaum, Nachfolger für offene Stellen zu finden. Laut Gesund- heitsministerium muss man schon deshalb Änderungen vornehmen, um künftig die Versorgung sicherstellen zu können. 2. Konzerne verdrängen die Ha‘särzte. 10% Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht zwar durchaus die Möglichkeit vor, dass neben Gruppenpraxen und Netzwerken von Hausärzten auch Ambulatorien zum Zug kommen, doch die Möglichkeit dafür ist stark eingeschränkt. Erstens muss eine Primärversorgungseinheit zuerst den bestehenden Kassenärzten, dann allen niedergelassenen Ärzten in der Region angeboten werden. Kommt da kein Vertrag zustande, gibt es eine Ausschreibung, an der alle Ärzte und auch Betreiber von Ambulatorien teilnehmen können. Die Krankenkassen müssen den Vertrag nach nachvollziehbaren Kriterien vergeben. Für Ambulatorien gibt es laut Gesetzesentwurf eine weitere Einschränkung: Es dürfen keine „beherrschenden Eigentümerstrukturen“entstehen, es darf also nicht ein Konzern die Versorgung im Land dominieren. Die Krankenkassen rechnen ohnehin nicht damit, dass Ambulatorien eine besondere Rolle spielen werden: Die hätten nämlich wesentlich höhere Auflagen zu erfüllen als eine Ärzte-Gruppenpraxis. 3. Kassenärzte können ihre Verträge verlieren. 20% Diese Möglichkeit ist im Gesetz tatsächlich vorgesehen, allerdings nicht für bestehende Verträge. Wer aber künftig einen Vertrag als Hausarzt bekommt, müsste in eine Primärversorgungseinheit wechseln, so in seiner Region eine geplant wird (für die Planung sind Länder und Krankenkassen zuständig). Dass dies für bestehende Verträge nicht gilt, birgt einiges an Konfliktpotenzial: Was passiert, wenn alle Ärzte einer Region den Wechsel verweigern? Gibt es dann eine Überversorgung mit Hausärzten plus Primärversorgungseinheit? 4. Die freie Arztwahl geht verloren. 5% Auch das ist eher unwahrscheinlich: Das Gesetz sieht sogar ausdrücklich vor, dass in Gruppenpraxen die freie Arztwahl zu gewährleisten ist. So der Arzt des Vertrauens anwesend ist, was bei langen Öffnungszeiten nicht immer der Fall sein wird. Allerdings ist auch der Hausarzt nicht rund um die Uhr anwesend. 5. Für echte Primärversorg‘ng ist z‘ wenig Geld vorhanden. 60% Das ist tatsächlich die Nagelprobe für das Konzept der Primärversorgung: Derzeit sind 200 Millionen Euro vorgesehen, wobei es sich aber nicht um zusätzliche Mittel handelt, sondern um Geld der Kassen, das umgeschichtet wird. Funktionieren wird das Konzept der Primärversorgung aber nur, wenn deutlich mehr Geld ins System fließt, was nur geht, wenn der Spitalsbereich redimensioniert wird und die frei werdenden Mittel in den niedergelassenen Bereich umgeleitet werden. Das aber wäre ein politischer Kraftakt.