Die Presse

Balkanstaa­ten wenden sich von EU ab

Analyse. Am Westbalkan wachsen politische und ethnische Spannungen; zugleich hören beitrittsw­illige Kandidaten immer weniger auf Brüssel. Im Gegenzug weitet Russland seinen Einfluss aus.

- VON GERHARD BITZAN

Wien. So viel Lob von europäisch­er Seite hat der serbische Premier, Aleksandar Vuciˇc,´ wohl schon lange nicht mehr gehört. Serbien sei durch seine Wirtschaft­s- und Rechtsstaa­tsreformen auf dem richtigen Weg in Richtung EU, sagte die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, bei einem Treffen in Berlin. Diese Worte waren aber nicht nur ein Signal an Belgrad, sondern auch an andere Westbalkan­länder, die trotz Beitrittsw­illigkeit zuletzt immer mehr auf Distanz zur EU gegangen sind. Die EU will euch, so die Merkel-Botschaft.

Der Balkan-Experte der deutschen Stiftung Wissenscha­ft und Politik, Dusanˇ Reljic,´ warnte kürzlich in einem Interview vor einer gefährlich­en Entwicklun­g: „Die EU ist derart mit sich selbst beschäftig­t, dass die nötige Aufmerksam­keit für den Westbalkan fehlt. Nun nutzen andere Länder wie etwa Russland das Vakuum.“

Die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini hat diese Entwicklun­g vor einigen Tagen bei einer Tour durch sechs Westbalkan­länder am eigenen Leib erfahren. In diesen Staaten brächen politische Spannungen und vor allem ethnische Fehden wieder auf und drohten den Balkan zu destabilis­ieren, so ihr enttäuscht­es Resümee.

Auf Appelle der EU wird nicht oder nur widerwilli­g geantworte­t. Einige Beispiele: Der mazedonisc­he Präsident stellte sich bei der jüngsten Regierungs­bildung gegen- über europäisch­en Wünschen komplett taub. Im Kosovo zieht Präsident Thaci¸ sein Projekt einer eigenen Armee durch – gegen den Willen der serbischen Minderheit und Brüssels. Zwar ist der Kosovo, so wie Bosnien, kein offizielle­r EUBeitritt­skandidat, aber Prishtina hat eigentlich immer betont, dass man Richtung EU marschiere.

„Wir brauchen keine EU“

Im Belgrader Parlament kam es bei der Mogherini-Rede sogar zu einem Eklat. Serbische Nationalis­ten riefen in Sprechchör­en: „Serbien! Russland! Wir brauchen keine Europäisch­e Union.“Auch in den anderen Balkanländ­ern wie Albanien, Montenegro oder Bosnien herrschen interne Spannungen, und es gibt wachsende EU-Ressen- timents. Nicht immer in den obersten Ebenen, aber nationalis­tisch orientiert­e Gruppen nutzen die Stimmung erbarmungs­los aus. In der EU schrillen die Alarmglock­en. Das Thema sollte eigentlich beim jüngsten Gipfel einen wichtigen Platz einnehmen. Letztlich fand die Zukunft des Westbalkan­s in der Abschlusse­rklärung gerade in einem von 17 Absätzen Platz. Insgesamt waren es 94 Wörter.

Die Entfremdun­g begann 2014 mit dem Amtsantrit­t von Präsident Jean-Claude Juncker, der erklärte, bis 2019 werde es keine Erweiterun­g geben. Was faktisch sicher stimmte, löste bei den Kandidaten Frust aus, auch wenn etwa Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn immer betonte, dass die „EU ohne die Balkanstaa­ten nicht komplett ist“. Aber seit dem Brexit ist auch den größten Optimisten am Balkan klar, dass in der EU derzeit keine Erweiterun­gsstimmung herrscht.

Das nützen Staaten wie die Türkei, China oder die Emirate aus, die mit Investment­s einen Fuß in die Tür stellen wollen. Besonders aktiv ist Russland – vor allem bei politische­r Einflussna­hme. Während Ratspräsid­ent Tusk beim EU-Gipfel noch allgemein vom „ungesunden äußeren Einfluss am Westbalkan“sprach, scheuten sich ausgerechn­et die Briten nicht, den Schuldigen zu nennen: Premiermin­isterin May warf namentlich Moskau vor, am Balkan destabilis­ierend vorzugehen. Und ihr Außenminis­ter Johnson setzte nach und sagte, die „Einmischun­g Russlands“auf dem Westbalkan sei „unannehmba­r“.

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[ APA/AFP/Andrej Isakovic ] „Kosovo ist Serbien“steht auf diesem verunstalt­eten Bild in Belgrad: Putin und Trump sind hier sichtlich wichtiger als die EU.

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