Ungewollter Kuss muss keine sexuelle Belästigung sein
Arbeitsrecht. Entscheidend ist, ob der Belästigende merken konnte, dass sich seine Kollegin belästigt fühlt, sagt das Gericht.
Wien. Können eine unerwünschte Umarmung und ein Kuss eine sexuelle Belästigung darstellen, die eine Entlassung rechtfertigen? Und ist die Frage, ob ein Verhalten eine sexuelle Belästigung nach dem Gleichbehandlungsgesetz darstellt, überhaupt eine erhebliche Rechtsfrage? Damit hatte sich jüngst der Oberste Gerichtshof (OGH) zu befassen. Folgendes war passiert: Zwei Arbeitskollegen, ein Mann und eine Frau nämlich, kannten einander schon jahrelang und pflegten einen freundschaftlichen Umgang miteinander. Sie trafen sich auch hie und da in ihrer Freizeit, und der Mann hatte bei der Frau zu Hause schon Reparaturarbeiten und andere Hilfsdienste verrichtet. Bei einer dieser privaten Zusammenkünfte unternahm der Mann „einen völlig indiskutablen Annäherungsversuch“, den die Frau zurückwies. Doch diese Zudringlichkeit lag schon lange zurück und war für das Verfahren auch nicht relevant.
Vielmehr normalisierte sich das Verhältnis der beiden wieder. Der Mann umarmte seine Arbeitskollegin zur Begrüßung und küsste sie auch einmal auf den Mund. Vor Gericht konnte nicht festgestellt werden, dass der Frau dieses Verhalten lästig war oder sie ihm je deutlich zu erkennen gegeben hat, dass sie dies nicht wünsche, heißt es in der Entscheidung 8 ObA6/17s.
Eine Umarmung zu viel
Eines Tages war es ihr offenbar doch zu viel: Der Mann küsste seine Arbeitskollegin abermals und umarmte sie dabei. Daraufhin beschwerte sie sich bei einem ihrer Vorgesetzten. Und das hatte Folgen: Kurz darauf wurde der Mann von seinem Arbeitgeber entlassen.
Das ließ sich der Geschasste nicht gefallen. Er zog mit dem Argument vor Gericht, dass sein Verhalten keine sexuelle Belästigung gewesen und seine Entlassung daher rechtswidrig sei. Das Berufungsgericht teilte seine Meinung: Von einer sexuellen Belästigung könne erst dann die Rede sein, wenn für den Belästiger erkennbar ist, dass sein Verhalten für die betroffene Person unerwünscht ist. Freilich dürften an das ablehnende Verhalten der betroffenen Frau, hier der Arbeitskollegin des Mannes, keine zu hohen Ansprüche gestellt werden. Doch hier sei dem Kläger nicht erkennbar gewesen, dass sein Kuss und seine Umarmung unerwünscht seien. Sein Verhalten sei daher nicht als sexuelle Belästigung zu werten.
Unerwünscht oder geduldet?
Die Entscheidung, es habe sich im konkreten Fall um keine sexuelle Belästigung gehandelt, wollte jedoch der beklagte Dienstgeber nicht hinnehmen. Er wandte sich mit einer außerordentlichen Revision an den OGH. Doch der 8. Senat wies die Revision zurück. Dabei teilten die Richter die Auffassung des Berufungsgerichts, der Mann hätte gar nicht bemerken können, dass sein Verhalten bei der Arbeitskollegin unerwünscht war, nicht einmal. Jedoch bleibe die Frage, ob unter den gegebenen Umständen die Aktion des Klägers tatsächlich ausreiche, um den Entlassungsgrund der sexuellen Belästigung zu verwirklichen, so der OGH. Das Berufungsgericht sei bei seiner Beurteilung zu dem Ergebnis gekommen, dass unter den besonderen Umständen dieses Falls eben gerade keine sexuelle Belästigung vorliege. Damit habe es den ihm gebührenden Ermessensspielraum nicht überschritten.
Eine außerordentliche Revision wäre nur zulässig, wenn die Vorinstanz den Sachverhalt in unvertretbarer Weise oder krass fehlbeurteilt hätte, sagte der OGH. Davon könne aber hier nicht die Rede sein, eine erhebliche Rechtsfrage läge daher gar nicht vor. Der Dienstgeber wird sich weiterhin ärgern. Die Entlassung ist nicht gerechtfertigt.