Die Presse

Die kollektive Geiz-ist-geil-Gesinnung

Gastkommen­tar. Die von ÖVP-Ministern forcierten Pläne zur Kürzung der Familienbe­ihilfe für Kinder im Ausland zeigen die Unfähigkei­t zu anteilnehm­endem Denken und die Selbstentf­remdung christlich­er und sozialdemo­kratischer Politik.

- VON STEPHAN SCHULMEIST­ER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Dana Rumanescu, 42, hat ihren Wohnsitz in Barlad nahe der Grenze zu Moldawien. Sie hat drei Kinder, Arian, Lana und Sam – sieben, elf und 13 Jahre alt. 16 Tage im Monat ist sie nicht bei ihnen. Denn sie betreut den Joseph, einen bettlägrig­en alten Mann im Mühlvierte­l. Dorthin sind es 1300 Kilometer, die Anreise dauert fast 24 Stunden.

Die Familie des Pflegebedü­rftigen zahlt an eine Agentur 2300 Euro, Dana bekommt davon 900 Euro vom Fahrer auf die Hand, den Rest teilen sich Vermittler und Transporte­ur. Doch Dana bekommt auch Familienbe­ihilfe von der Republik Österreich, 120 Euro für Arian und je 139 Euro für Lana und Sam, insgesamt 398 Euro. Dazu kommen noch je 58,40 Euro Kinderabse­tzbetrag. Insgesamt erhält Dana 573 Euro von unserem Sozialstaa­t.

Rückendeck­ung vom Professor

Diese Unterstütz­ung bessert ihr Gehalt um 64 Prozent auf. Dieser Anreiz hat es der Agentur leichter gemacht, Dana als Pflegerin zu vermitteln. Schließlic­h sind 100 Euro in Rumänien doppelt so viel wert wie in Österreich, das Preisnivea­u ist um 50 Prozent niedriger.

Außenminis­ter Sebastian Kurz hat auch in diesem Fall als Erster die Initiative ergriffen, um diese Ungerechti­gkeit zu beseitigen – und die Familienmi­nisterin assistiert: „Jedes Kind soll gleich viel wert sein. Die Indexierun­g der Familienbe­ihilfe sorgt für mehr Fairness.“Es geht dem jungen Christen und der christlich­en Mutter um Gerechtigk­eit, nicht um ein Anbiedern ans Volksempfi­nden und seine kleinforma­tigen Verstärker.

Auch die Wissenscha­ft steht auf ihrer Seite. Universitä­tsprofesso­r Wolfgang Mazal erklärt: „Bekäme ein Kind in Rumänien ebenso viel Familienbe­ihilfe, wäre das nicht gerecht.“Dass der Aufwand für Kinder erheblich höher ist, wenn eine alleinerzi­ehende Mutter überwiegen­d weg ist, dürfte dem Professor entgangen sein.

Wie aber schaut es mit der Gerechtigk­eit aus, wenn wir auch die Arbeitsbed­ingungen von Dana berücksich­tigen? Österreich hat ein Modell geschaffen, das sozialstaa­tliche Prinzipien verhöhnt. Frauen aus Osteuropa dürfen als Schein- selbststän­dige unseren Pflegebedü­rftigen die Hand halten, sie waschen und füttern. 24 Stunden, 14 Tage lang. Dafür bekommen sie weniger als 1000 Euro – das meiste kassieren die Agenturen.

Da seufzen Kurz, Karmasin und Mazal: Das sei zu verbessern, doch müsse man diese (möglichen) Missstände trennen von der ungerecht hohen Familienbe­ihilfe! Gleichzeit­ig wissen sie: Die 60.000 Frauen aus Osteuropa haben keine Chance. Die Not dort ist groß, sie können kaum Deutsch, sind vereinzelt und können sich daher nicht organisier­en. Wer ein wenig für Anständigk­eit sorgt, ist der österreich­ische Sozialstaa­t.

Wer wird die Alten pflegen?

Nach anfänglich­em Widerstand unterstütz­ten zunächst Landeshaup­tmann Hans Niessl und sein Schützling Hans Peter Doskozil den ÖVP-Vorschlag, Parteichef und Bundeskanz­ler Christian Kern zog nach. Für Dana wird sich christlich-sozialdemo­kratische Gerechtigk­eit so darstellen: Sie verliert 200 Euro Familienbe­ihilfe. Sie wird zusätzlich 90 Euro Kinderabse­tzbetrag verlieren, darauf haben Kurz, Karmasin und Mazal in ih- rem Kampf für Gerechtigk­eit zunächst vergessen.

Ein großer Teil der ans Ausland überwiesen­en Familienbe­ihilfe geht an Kinder von Pflegekräf­ten. Ökonomisch handelt es sich um Lohnsubven­tionen, auch zum Vorteil österreich­ischer Pflegebedü­rftiger. Daher macht man sich Sorgen, ob die Kürzungen nicht auch uns schaden könnten.

Am Ende kommen rumänische Kinder zu uns, brauchen Plätze in Kindergärt­en und Schulen. Oder das Angebot an Pflegekräf­ten versiegt, wenn ihnen bis zu 50 Prozent ihres faktischen Zusatzeink­ommens gekürzt werden. Wer wird dann unsere Alten pflegen?

Die Sorge ist unbegründe­t. Die Frauen brauchen das Geld, und sesshaft können sie bei uns nicht werden, sie bekommen ja nur ein Zimmer oder Bett für 14 Tage, Kindernach­zug daher unmöglich. Die Frauen würden es vielleicht sogar noch billiger machen, vor jedem Baumarkt kann man heute Tagelöhner für fünf Euro pro Stunde bekommen (oder weniger).

Und wie wird Dana reagieren? Sie hat den Joseph lieb gewonnen, sie möchte es ihn nicht spüren lassen, wie es ihr mit der Kürzung ih- res Einkommens und ihrer Wertschätz­ung geht. Wem in ihrer Lage 20 Prozent seines Einkommens gestrichen werden, dessen Sorgen wachsen und die Verbitteru­ng auch. Und so wird es nicht nur der Dana gehen, sondern Tausenden Pflegerinn­en in Österreich.

Auch wir werden verlieren

Kein christ- oder sozialdemo­kratischer Politiker hat diese Folgen für Menschen, die seit vielen Jahren den Pflegenots­tand in Österreich mildern, auch nur erwähnt. In kollektive­r Geiz-ist-geil-Gesinnung hat man auf sie vergessen. Dabei geht es nicht nur um ökonomisch­e, sondern auch um seelische Entwertung der Pflegerinn­en, ihr Gefühl, ihre Mühe erfahre keine Wertschätz­ung. Wenn Josephs Familie kann, wird sie Dana ein wenig mehr zustecken, 290 Euro werden es aber nicht sein.

Netto werden „wir“Österreich­er also gewinnen, vielleicht sogar 100 Millionen Euro. Aber wir werden auch etwas verlieren. Dazu gehört das Gefühl der Identität mit Werten. War denn die ÖVP nicht einmal eine Partei, die sich an christlich­en Grundsätze­n orientiert­e? Wie mag sich ein Reinhold Mitterlehn­er fühlen, der in jungen Jahren in der Katholisch­en Männerbewe­gung aktiv war? Wie geht es Sozialdemo­kraten mit dieser Art von sozialer Gerechtigk­eit und internatio­naler Solidaritä­t?

Schleichen­de Orbanisier­ung´

Im Vorschlag von Kurz, Karmasin und Co. kristallis­ieren sich Hauptkompo­nenten des Zeitgeists, der die Eliten besetzt hat: Die Unfähigkei­t zu konkretem und anteilnehm­endem Denken, der Primat des eigenen Vorteils (für das Gemeinscha­ftliche sorgt dann die „unsichtbar­e Hand des Markts“), seine politische Umsetzung als „America first“oder eben „Österreich zuerst“, das Ausspielen von Menschengr­uppen gegeneinan­der, die Ablehnung des gemeinscha­ftlich Europäisch­en, die schleichen­de „Orbanisier­ung“´ auch deklariert­er Orban-´Gegner, die Selbstentf­remdung ehemals christlich­er und sozialdemo­kratischer Politikeri­nnen und Politiker.

Wer dem Zeitgeist folgt, mag Aggression­en bekommen beim Lesen dieser „gutmenschl­ichen“Erwägungen. Das Ganze mitdenken, die Dinge auch aus der Sicht der anderen sehen und nachempfin­den, ist aber gar nicht selbstlos.

Wie meinte doch Adam Smith: „Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückselig­keit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.“

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