Entscheidung nach 60 Jahren
Reform. Die EU steht vor der wichtigsten Weichenstellung ihres Bestehens: Soll sie zurück zu den Anfängen oder sich in Kernbereichen zu einer stärker integrierten Union weiterentwickeln?
Rom. „Sind wir in der Lage, das Vertrauen des Jahres 1957 wiederzuwecken?“Der Gastgeber des heute in Rom stattfindenden EU-Sondergipfels anlässlich 60 Jahre Römischer Verträge, Paolo Gentiloni, spricht die Krise der EU direkt an. Denn sie hat sich nicht nur in einer Finanz-, Schulden- und Migrationsmalaise manifestiert, sondern auch in der skeptischen Stimmung der Bürger. Einer Stimmung, die bereits zum Verlust eines ersten Mitgliedslands beigetragen hat.
60 Jahre nach der Gründung steht die EU vor einer ultimativen Entscheidung: Zurück oder doch weiter nach vorn? Bei der wachsenden Zahl an moderaten EU-Kritikern wächst der Wunsch nach einer schlanken Gemeinschaft, die sich auf die 1957 entwickelte Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft beschränkt. In der politischen Praxis würde das den Erhalt eines Freihandelraums für 27 Mitgliedstaaten bedeuten, von denen einige möglicherweise noch an einer gemeinsamen Währung festhalten. Wegfallen könnten aber bald die offenen Grenzen für Arbeitnehmer. Es wäre eine Gemeinschaft, die etwa die Migration wieder allein durch nationale Grenzkontrollen regelt, die eine Freizügigkeit von Arbeitskräften nicht mehr zum Prinzip erklärt, sondern zur regulierbaren Option umwandelt. Erste Anzeichen in diese Richtung gibt es mit der gewünschten Kürzung von Sozialleistungen an EU-Bürger in Deutschland und Österreich oder durch Forderungen des tschechischen Außenministers, Lubom´ır Zaoralek,´ die Freizügigkeit zu beschränken. Insgesamt ist es frei- lich laut Eurostat nach wie vor nur eine Minderheit von 7,5 Millionen der insgesamt 510 Millionen EU-Bürger, die in einem anderen Mitgliedsland arbeiten.
Die EU soll nach diesen Ideen eine noch kleinere Verwaltung und ein sinkendes Budget – derzeit rund 0,9 Prozent der Wirtschaftsleistung – erhalten. Die EUKommission soll sämtliche politischen Funktionen zurücklegen und sich auf die Arbeit als Wettbewerbsbehörde konzentrieren.
Nach vorn
Proeuropäische Kräfte, wie sie heute, Samstag, zu Tausenden in Rom demonstrieren wollen, stehen für eine Weiterentwicklung der EU. Auch sie favorisieren eine schlanke Union, die sich nicht mehr in Alltagsangelegenheiten wie Ölkännchen oder Rauchverbote einmischt. Die aktuelle EUKommission hat sowieso bereits die Entwicklung neuer Richtlinien und Verordnungen zurückgefahren. Wurden 2011 noch 165 Gesetzesinitiativen eingebracht, waren es im ersten Jahr der Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker nur noch 50.
Worum es den progressiven Kräften geht, ist eine EU, die künftig in Kernbereichen wie der Währungsunion oder der Außen- und Sicherheitspolitik effizienter als bisher zusammenarbeitet – hier weitere notwendige Kompetenzen aus den Nationalstaaten an politisch gestärkte und demokratisch besser legitimierte Institutionen überträgt. Dies betrifft auch die gemeinsame Migrationspolitik samt effizientem Schutz der Außengrenzen.
Gleichzeitig soll der Binnenmarkt mit all seinen Freiheiten – also auch der Freizügigkeit von Arbeitnehmern – erhalten und im digitalen Bereich ausgeweitet werden. Die EU-Kommission soll neben ihrer Tätigkeit als Wettbewerbsbehörde politische Kompetenzen etwa in der internationalen Wirtschaftspolitik erhalten. Die EU, so der Gedanke, soll intern offen bleiben und nach außen stark genug werden, die Globalisierung mitzugestalten. Für die Realisierung all dieser Pläne ist allerdings ein Umdenken der meist rein innenpolitisch agierenden EU-Regierungen notwendig. Im Manifest der proeuropäischen Demonstranten in Rom heißt es denn auch: „Wir europäischen Bürger wollen keine nationalen Politiker mehr, die lediglich auf ihre nächsten lokalen oder nationalen Wahlen achten.“