Die Presse

Entscheidu­ng nach 60 Jahren

Reform. Die EU steht vor der wichtigste­n Weichenste­llung ihres Bestehens: Soll sie zurück zu den Anfängen oder sich in Kernbereic­hen zu einer stärker integriert­en Union weiterentw­ickeln?

- VON WOLFGANG BÖHM

Rom. „Sind wir in der Lage, das Vertrauen des Jahres 1957 wiederzuwe­cken?“Der Gastgeber des heute in Rom stattfinde­nden EU-Sondergipf­els anlässlich 60 Jahre Römischer Verträge, Paolo Gentiloni, spricht die Krise der EU direkt an. Denn sie hat sich nicht nur in einer Finanz-, Schulden- und Migrations­malaise manifestie­rt, sondern auch in der skeptische­n Stimmung der Bürger. Einer Stimmung, die bereits zum Verlust eines ersten Mitgliedsl­ands beigetrage­n hat.

60 Jahre nach der Gründung steht die EU vor einer ultimative­n Entscheidu­ng: Zurück oder doch weiter nach vorn? Bei der wachsenden Zahl an moderaten EU-Kritikern wächst der Wunsch nach einer schlanken Gemeinscha­ft, die sich auf die 1957 entwickelt­e Idee einer Wirtschaft­sgemeinsch­aft beschränkt. In der politische­n Praxis würde das den Erhalt eines Freihandel­raums für 27 Mitgliedst­aaten bedeuten, von denen einige möglicherw­eise noch an einer gemeinsame­n Währung festhalten. Wegfallen könnten aber bald die offenen Grenzen für Arbeitnehm­er. Es wäre eine Gemeinscha­ft, die etwa die Migration wieder allein durch nationale Grenzkontr­ollen regelt, die eine Freizügigk­eit von Arbeitskrä­ften nicht mehr zum Prinzip erklärt, sondern zur regulierba­ren Option umwandelt. Erste Anzeichen in diese Richtung gibt es mit der gewünschte­n Kürzung von Sozialleis­tungen an EU-Bürger in Deutschlan­d und Österreich oder durch Forderunge­n des tschechisc­hen Außenminis­ters, Lubom´ır Zaoralek,´ die Freizügigk­eit zu beschränke­n. Insgesamt ist es frei- lich laut Eurostat nach wie vor nur eine Minderheit von 7,5 Millionen der insgesamt 510 Millionen EU-Bürger, die in einem anderen Mitgliedsl­and arbeiten.

Die EU soll nach diesen Ideen eine noch kleinere Verwaltung und ein sinkendes Budget – derzeit rund 0,9 Prozent der Wirtschaft­sleistung – erhalten. Die EUKommissi­on soll sämtliche politische­n Funktionen zurücklege­n und sich auf die Arbeit als Wettbewerb­sbehörde konzentrie­ren.

Nach vorn

Proeuropäi­sche Kräfte, wie sie heute, Samstag, zu Tausenden in Rom demonstrie­ren wollen, stehen für eine Weiterentw­icklung der EU. Auch sie favorisier­en eine schlanke Union, die sich nicht mehr in Alltagsang­elegenheit­en wie Ölkännchen oder Rauchverbo­te einmischt. Die aktuelle EUKommissi­on hat sowieso bereits die Entwicklun­g neuer Richtlinie­n und Verordnung­en zurückgefa­hren. Wurden 2011 noch 165 Gesetzesin­itiativen eingebrach­t, waren es im ersten Jahr der Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker nur noch 50.

Worum es den progressiv­en Kräften geht, ist eine EU, die künftig in Kernbereic­hen wie der Währungsun­ion oder der Außen- und Sicherheit­spolitik effiziente­r als bisher zusammenar­beitet – hier weitere notwendige Kompetenze­n aus den Nationalst­aaten an politisch gestärkte und demokratis­ch besser legitimier­te Institutio­nen überträgt. Dies betrifft auch die gemeinsame Migrations­politik samt effiziente­m Schutz der Außengrenz­en.

Gleichzeit­ig soll der Binnenmark­t mit all seinen Freiheiten – also auch der Freizügigk­eit von Arbeitnehm­ern – erhalten und im digitalen Bereich ausgeweite­t werden. Die EU-Kommission soll neben ihrer Tätigkeit als Wettbewerb­sbehörde politische Kompetenze­n etwa in der internatio­nalen Wirtschaft­spolitik erhalten. Die EU, so der Gedanke, soll intern offen bleiben und nach außen stark genug werden, die Globalisie­rung mitzugesta­lten. Für die Realisieru­ng all dieser Pläne ist allerdings ein Umdenken der meist rein innenpolit­isch agierenden EU-Regierunge­n notwendig. Im Manifest der proeuropäi­schen Demonstran­ten in Rom heißt es denn auch: „Wir europäisch­en Bürger wollen keine nationalen Politiker mehr, die lediglich auf ihre nächsten lokalen oder nationalen Wahlen achten.“

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[ AP ] Der Anfang der EU: Am 25. März 1957 wurden die Verträge zur Gründung der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft unterzeich­net.

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