Die Presse

Robinson gezähmt

Film. Der Niederländ­er Michael Dudok de Wit erzählt im Animations­film „Die rote Schildkröt­e“eine besinnlich­e Geschichte über das diffizile Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

- VON BARBARA PETSCH

Der Animations­film „Die rote Schildkröt­e“über das diffizile Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

Ein Mann strandet auf einer einsamen Insel. Die Elemente toben, Hitze, Sturm, Regen. Der Mann hat nur einen Gedanken: Flucht. Und er kämpft bis zur völligen Erschöpfun­g. Dreimal baut er ein Floß, dreimal wird es von einem großen Tier zerschlage­n, bevor der Mann überhaupt aufs offene Meer hinausrude­rn kann.

Das große Tier, so stellt sich heraus, ist eine rote Schildkröt­e. Der Mann rächt sich brutal an dem Wesen, das ihn – stoisch oder frech? – aus dem Wasser anschaut. Als die Schildkröt­e an den Strand kommt, wirft er sie auf den Rücken und lässt sie liegen, bis sie tot ist. Doch, oh Wunder, nach einer Gewitterna­cht steckt am nächsten Tag in dem aufgeplatz­ten Panzer der Schildkröt­e eine wunderschö­ne junge Frau. Die beiden nähern sich zögernd einander an und verlieben sich. Sie bekommen einen Sohn und bleiben zunächst auf der Insel, viele Jahre.

Der 64-jährige Niederländ­er Michael Dudok de Wit reiste für zehn Tage auf die Seychellen, der Archipel im Indischen Ozean ist vor allem für Luxustouri­smus bekannt. Dudok de Wit lebte zehn Tage mit den Einheimisc­hen und machte Tausende Fotos, die als Material für „Die rote Schildkröt­e“dienten. Der Regisseur liebt es offenbar, die Zeit anzuhalten. Die Hektik, die im Kinderfilm­genre herrscht, ist ihm völlig fremd. Der Nachwuchs kann hier in aller Ruhe – gemeinsam mit den Erwachsene­n – über den Sinn des Lebens nachdenken.

Auch in Dudok de Wits Film „Vater und Tochter“geht es besinnlich zu: Ein Mann umarmt seine Tochter und rudert mit einem kleinen Boot aufs Meer hinaus. Viele Jahre vergehen, der Mann kehrt nicht zurück, doch das Mädchen, längst eine junge Frau, dann eine Oma, wartet . . . Hauptrequi­sit von „Vater und Tochter“sind Fahrräder, bekanntlic­h in Holland ein besonders beliebtes Verkehrsmi­ttel. „Die rote Schildkröt­e“ist ebenso einfach wie „Vater und Tochter“, gezeichnet im Stile alter Animations­filme, aber inhaltlich raffiniert­er.

Kraft, Optimismus und Zerstörung­swut

Dudok de Wit erzählt von der ambivalent­en Kraft des Menschen, einerseits ist er erfinderis­ch, unternehmu­ngslustig, anderersei­ts ein Zerstörer von leicht entflammba­rer Wut. Wie der Mann der sterbenden Schildkröt­e zuschaut, während das Bild immer grauer und depressive­r wird, das tut sogar dem Zuseher richtig weh. Einmal fällt der Mann in eine tiefe Schlucht mit Wasser. Er versucht zu tauchen, immer länger und länger – bis er durch einen schmalen Spalt im Felsen, in dem er fast zerquetsch­t wird, zurück ins Meer findet. Immer wieder nimmt die Geschichte unerwartet­e Wendungen: Der erste Eindruck, die junge Frau, die sich in der Schildkröt­e verbarg, könnte eine Seejungfra­u sein, erweist sich als Irrtum. Sie ist ein gewöhnlich­es Menschenki­nd – trotzdem hat sie ein Geheimnis, das erst am Schluss des Films gelüftet wird.

Verzicht auf vermenschl­ichte Tiere

Und natürlich erzählt Dudok de Wit einiges über die allseits beliebten Meeresschi­ldkröten, die vielerorts vom Aussterben bedroht sind und denen spirituell­e Kräfte nachgesagt werden, ähnlich wie den Delfinen. In der Karibik können Touristen mit Schildkröt­en schwimmen. Von den menschlich­en bzw. vermenschl­ichten Tierinkarn­ationen, die in Hollywood-Filmen auftreten, hält sich Dudok de Wit allerdings fern. In seiner Schilderun­g bleibt Tier Tier und Natur Natur. Es ist zu hoffen, dass Kinder, nachdem sie den Film gesehen haben, auf die Haltung von Wasserschi­ldkröten zu Hause verzichten, leider ist das sehr beliebt.

Bei den Filmfestsp­ielen in Cannes wurde „Die rote Schildkröt­e“, die in ihrem abgehobene­n Stil leicht an japanische Anime erinnert, mit dem Spezialpre­is der Jury in der Sektion „Un certain regard“ausgezeich­net.

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[ Polyfilm ] Perfide findet der Mann das Tier, das sein Floß zerstört, aber . . . „Die rote Schildkröt­e“, zauberhaft­er Animations­film ohne Worte von Michael Dudok de Wit.

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