Robinson gezähmt
Film. Der Niederländer Michael Dudok de Wit erzählt im Animationsfilm „Die rote Schildkröte“eine besinnliche Geschichte über das diffizile Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Der Animationsfilm „Die rote Schildkröte“über das diffizile Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Ein Mann strandet auf einer einsamen Insel. Die Elemente toben, Hitze, Sturm, Regen. Der Mann hat nur einen Gedanken: Flucht. Und er kämpft bis zur völligen Erschöpfung. Dreimal baut er ein Floß, dreimal wird es von einem großen Tier zerschlagen, bevor der Mann überhaupt aufs offene Meer hinausrudern kann.
Das große Tier, so stellt sich heraus, ist eine rote Schildkröte. Der Mann rächt sich brutal an dem Wesen, das ihn – stoisch oder frech? – aus dem Wasser anschaut. Als die Schildkröte an den Strand kommt, wirft er sie auf den Rücken und lässt sie liegen, bis sie tot ist. Doch, oh Wunder, nach einer Gewitternacht steckt am nächsten Tag in dem aufgeplatzten Panzer der Schildkröte eine wunderschöne junge Frau. Die beiden nähern sich zögernd einander an und verlieben sich. Sie bekommen einen Sohn und bleiben zunächst auf der Insel, viele Jahre.
Der 64-jährige Niederländer Michael Dudok de Wit reiste für zehn Tage auf die Seychellen, der Archipel im Indischen Ozean ist vor allem für Luxustourismus bekannt. Dudok de Wit lebte zehn Tage mit den Einheimischen und machte Tausende Fotos, die als Material für „Die rote Schildkröte“dienten. Der Regisseur liebt es offenbar, die Zeit anzuhalten. Die Hektik, die im Kinderfilmgenre herrscht, ist ihm völlig fremd. Der Nachwuchs kann hier in aller Ruhe – gemeinsam mit den Erwachsenen – über den Sinn des Lebens nachdenken.
Auch in Dudok de Wits Film „Vater und Tochter“geht es besinnlich zu: Ein Mann umarmt seine Tochter und rudert mit einem kleinen Boot aufs Meer hinaus. Viele Jahre vergehen, der Mann kehrt nicht zurück, doch das Mädchen, längst eine junge Frau, dann eine Oma, wartet . . . Hauptrequisit von „Vater und Tochter“sind Fahrräder, bekanntlich in Holland ein besonders beliebtes Verkehrsmittel. „Die rote Schildkröte“ist ebenso einfach wie „Vater und Tochter“, gezeichnet im Stile alter Animationsfilme, aber inhaltlich raffinierter.
Kraft, Optimismus und Zerstörungswut
Dudok de Wit erzählt von der ambivalenten Kraft des Menschen, einerseits ist er erfinderisch, unternehmungslustig, andererseits ein Zerstörer von leicht entflammbarer Wut. Wie der Mann der sterbenden Schildkröte zuschaut, während das Bild immer grauer und depressiver wird, das tut sogar dem Zuseher richtig weh. Einmal fällt der Mann in eine tiefe Schlucht mit Wasser. Er versucht zu tauchen, immer länger und länger – bis er durch einen schmalen Spalt im Felsen, in dem er fast zerquetscht wird, zurück ins Meer findet. Immer wieder nimmt die Geschichte unerwartete Wendungen: Der erste Eindruck, die junge Frau, die sich in der Schildkröte verbarg, könnte eine Seejungfrau sein, erweist sich als Irrtum. Sie ist ein gewöhnliches Menschenkind – trotzdem hat sie ein Geheimnis, das erst am Schluss des Films gelüftet wird.
Verzicht auf vermenschlichte Tiere
Und natürlich erzählt Dudok de Wit einiges über die allseits beliebten Meeresschildkröten, die vielerorts vom Aussterben bedroht sind und denen spirituelle Kräfte nachgesagt werden, ähnlich wie den Delfinen. In der Karibik können Touristen mit Schildkröten schwimmen. Von den menschlichen bzw. vermenschlichten Tierinkarnationen, die in Hollywood-Filmen auftreten, hält sich Dudok de Wit allerdings fern. In seiner Schilderung bleibt Tier Tier und Natur Natur. Es ist zu hoffen, dass Kinder, nachdem sie den Film gesehen haben, auf die Haltung von Wasserschildkröten zu Hause verzichten, leider ist das sehr beliebt.
Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde „Die rote Schildkröte“, die in ihrem abgehobenen Stil leicht an japanische Anime erinnert, mit dem Spezialpreis der Jury in der Sektion „Un certain regard“ausgezeichnet.